Braunbären in Rente: Ruhe, Fett und Medizin

Sie sind den Zwingern, Minizoos und Zirkusmanegen entkommen – an der Mecklenburger Seenplatte genießen 16 Braunbären ein naturnahes Altenteil.

zwei Braunbären im Wald

Vater Siggi und Sohn Balou (r.) beim Verdauungsspaziergang Foto: Chris Grodotzki

STUER taz | Vor dem Frühstück braucht Siggi sein Arthrose-Mittel. Seine Knochen machen ihm zu schaffen, auch die Arterien und die Zähne, manchmal noch der Magen. Die Medizin nimmt er im Honigbrötchen zu sich. Anders brauche man es gar nicht erst probieren, sagt Tierpflegerin Sabine Steinmeier, die wie an jedem Morgen die Bären im Bärenwald Müritz zusammen mit ihren Kolleginnen versorgt.

Siggi ist einer von 16 Braunbären, die auf dem 16 Hektar großen Areal aus Wald, Wiesen und Wasser im Südwesten der Mecklenburgischen Seenplatte leben. Über den Baumkronen ziehen die letzten Zugvögel in Schwärmen Richtung Süden, ihr Schnarren ist das lauteste Geräusch, während die wuchtigen Bären mit ihrem muskulösen steilen Buckel vor allem durch ihr leises Auftreten und die ruhigen sanften Bewegungen überraschen. Alle sind ehemalige Zirkus- oder Zoobären. Sie kamen meist aus Betongehegen und Zwingern in das naturnahe Projekt der internationalen Tierschutzorganisation „Vier Pfoten“, den Bärenwald Müritz.

Steinmeiers braune Augen verharren geduldig auf dem Honigbrötchen, bis Siggi den Snack mit dem Maul schnappt und mitsamt dem untergemischten Grünlippmuschel-Extrakt auffuttert. „Tiere in Gefangenschaft werden oftmals viel älter als ihre frei lebenden Artgenossen. Mit dem Alter kommen auch Krankheiten, dazu machen sich die Spuren der katastrophalen früheren Haltungsbedingungen bemerkbar“, sagt die 53-Jährige.

Steinmeier kennt selbst auch „die andere Seite“, etwa aus ihrer Ausbildungseinrichtung, in der damals vier Bären in Käfigen lebten. Für ihren jetzigen Job ist sie vor neun Jahren aus Solingen an die Müritz gezogen, weil sie „genau in diesem Projekt“ arbeiten wollte. Inzwischen ist die Frau mit den rötlichen Locken und den hellen Leberflecken auf den runden Wangen Chef-Tierpflegerin im Bärenwald.

Trauben, Nüsse, Kohlköpfe

Unmittelbar vor die Schnauzen der Bären servieren die Tierpflegerinnen nur die getarnte Medizin. Das restliche Futter verstecken und verstreuen sie querfeldein im Gehege. Mit Schaufeln pfeffern sie Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Trauben, auch Nüsse, Avocados und Brötchen ins neblige Dickicht. Kohlköpfe kugeln oben auf der vollgeladenen Schubkarre hin und her, die sie über den teils glitschigen Waldboden schieben. Die Futtermenge ist beeindruckend, auch wenn sie wegen der bevorstehenden Winterruhe schon reduziert ist, um den natürlichen Jahresrhythmus einzuhalten.

Mehr als 70.000 Euro kostet das Bärenfutter jährlich. Vier Fünftel der Nahrung ist vegetarisch, etwa ein Fünftel besteht aus Fleisch und Fisch – im Bärenwald reicht nahezu das Unfallwild von den umliegenden Förstereien: „Je mehr es stinkt, desto lieber mögen es die Bären“, sagt Steinmeier, die die toten Tiere auch oft selbst mit dem Transporter abholt.

„Je mehr das Fleisch stinkt, desto lieber mögen es die Bären“

Während die Tierpflegerinnen im Großgehege unterwegs sind, wartet Bär Siggi zusammen mit seinem viel bulligeren Sohn Balou in einem separaten Vorgehege. Es ist wie alle Bärenareale mit Maschendraht- und Stromzaun gesichert, durch den auch die Besucherinnen und Besucher von den Tieren getrennt sind. Einige der Bären haben sich ihr Fettpolster zugelegt und befinden sich schon in Winterruhe. Ihre Körpertemperatur sinkt um etwa 5 Grad, ihr Herz schlägt nur noch 8 Mal statt der normalen 40 Mal in der Minute. So können Braunbären bis zu sieben Monate ohne zu urinieren und zu koten, ohne Nahrung und Flüssigkeit verharren. An dem Protein, dass diesen verlangsamten Stoffwechsel ermöglicht, ohne die Organe zu schädigen, ist auch die Forschung interessiert.

Vater und Sohn

Die Bären Siggi und Balou bauen sich noch keine Winterhöhlen, wie sie in den Gehegen der anderen Tiere teils schon gut zu erkennen sind. Bärin Hanna hat sich etwa mit ihren Pranken eine sechs bis sieben Meter weite Höhle schräg in die Erde gegraben und mit Stroh ausstaffiert, das ihr jetzt am Hintern klebt, als sie lethargisch über die Lichtung trottet.

Siggi und Balou bevorzugten in den vorherigen Wintern stattdessen eine Betonröhre – eigentlich eines ihrer Spielgeräte – als Rückzugsort. Während des vorherigen milden Winters machten sie keine klassische Winterruhe, was nicht ungewöhnlich ist für die wetterfühligen und individualistischen Braunbären. Steinmeier kennt all diese Details und Geschichten aus dem Bärenreich, sie könnte wohl ihre Uhr stellen nach ihren Müritzer Bären.

Sobald die Tierpflegerinnen die morgendliche Ration verteilt haben, können Siggi und Balou zurück in ihr Revier und nach ihrem Futter suchen – in der freien Natur stöbern Braunbären bis zu 16 Stunden täglich nach Futter und legen dabei bis zu 40 Kilometer zurück. „Für wild geborene Tiere wäre die Gehegehaltung nicht das Richtige, es fehlt der Platz und die Menschennähe macht ihnen Stress. Für die ehemals gefangenen Bären ist es mit das Beste, was es gibt“, sagt Steinmeier, deren goldene Delfinohrringe beim Gang zum nächsten Gehege hin und her wackeln.

Großwildtiere im Zirkus

„Es ist schon beeindruckend, wie viel Platz die Bären in freier Wildbahn benötigen. Und es ist einfach nur grotesk, sie in Zoos und Zwingern unterzubringen“, sagt Carsten Hertwig in seiner nüchternen Art. Dass es in Deutschland nach wie vor erlaubt ist, Großwildtiere in Zirkusbetrieben zu halten, verärgert ihn. Der 50-Jährige leitet den Bärenwald seit der Eröffnung vor zehn Jahren als Geschäftsführer. Meist ist es er, der Forstwissenschaftler, der mit den Tierhalterinnen und -haltern verhandelt, sie überzeugt, die Bären abzugeben.

Hertwig und Steinmeier kennen die Ticks, die die Bären in der betonierten oder ausgelatschten Enge bestimmen. Bevor die Bären umziehen, werden sie intensiv beobachtet: Sie laufen rastlos im Kreis, werfen ihren Kopf umher, masturbieren übermäßig, hüpfen auf der Stelle oder verletzen sich. Diese immer gleichen, sinnlosen Verhaltensmuster werden als Stereotypien bezeichnet. „Bei manchen Bären hatte das wahnsinnige, wirklich ganz gruselige Dimensionen“, sagt Hertwig, der für „Vier Pfoten“ auch alle anderen weltweiten Bärenprojekte koordiniert.

So setzt sich Hertwig auch ein für bulgarische Tanzbären, serbische „Restaurantbären“, ukrainische „Kampfbären“, die für das Abrichten von Hunden missbraucht werden, oder vietnamesische „Gallebären“, denen zur Herstellung traditioneller Medizin auf Großfarmen der Gallensaft mit Kanülen abgezapft wird. Auch die albanische Bärin Gjina, die täglich bis zu 20 Liter Bier bekam, bereitete Hertwig auf ihre Befreiung vor. Sein Telefon hat er auch hier im Bärenwald immer wieder am Ohr. Wie ein Manager rattert er Reisedaten, Städtenamen, Länder und Zahlen runter. Und er kümmert sich um eine Baugenehmigung in Vietnam, während er nach oben ins bunt gefärbte Blätterwerk blickt.

Lothars Leidensweg

Für Hertwig ging alles los mit Lothar, dem ersten Bären, der im Oktober 2006 an einem Freitag, den 13., an der Müritz ankam. „Das war total neu und unglaublich spannend, wie er sich entwickelt hat“, sagt Hertwig. Lothar ist nach dem früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Lothar Späth, benannt. Denn der im sächsischen Torgau geborene Bär ging 1990 anlässlich einer Landesgartenschau als Geschenk an die schwäbische Partnerstadt Sindelfingen. Nach einer Saison im Streichelzoo landete Lothar dann für fast 16 Jahre in einem Betongehege eines Schwarzwälder Tierparks.

Ein Video an einer der Besucherinnen-Stationen des Bärenparks zeigt, wie Lothar sich zunächst kaum auf den ihm unbekannten Waldboden traute. Die Unsicherheit hat er längst abgelegt. „Wie ein Imperator tritt er auf. Wenn Lothar präsent ist, haben die anderen Bären Schiss“, sagt Tierpflegerin Steinmeier. Sie weichen vor ihm zurück.

Als Lothar mal bei Wintereinbruch seine Höhle nicht fertig hatte, jagte er kurzerhand Bärin Sindi aus ihrer Höhle. „Das war ein Gebrüll und Getöse, wie ich es bis dahin nicht kannte,“ sagt Steinmeier. Am Ende habe sich Sindi damit begnügt, Lothars Höhle bei Frost und Schnee fertigzubauen.

Der Käfig im Kopf

„Wie sich die Tiere in der neuen Umgebung verhalten, ist kaum vorherzusagen“, sagt Steinmeier, die mit Verhaltensprotokollen auch viel Zeit im Büro verbringt. Das fange schon bei der Ankunft an: Manche hätten ihre Transportkiste sofort verlassen, eine Bärin erst nach Tagen. „Es ist ein Luxus, die ganze Entwicklung zu sehen, weil die Bären sich sehr verändern.“

Manchmal scheint es aber auch, als hole die Bären ihre Vergangenheit ein. Wie bei Ida. Ihr Fell ist triefend nass, sie muss gerade im Bach gebadet haben. Jetzt aber läuft sie ganz nah am Zaun auf und ab. Drei Schritte nach links, eine Wendung mit angehobener Pfote, drei Schritte nach rechts. Dieses akkurate Nonstop wirkt völlig irre, gibt es doch so viel Platz um sie herum. Auch wie Bär Michal auf den Hinterbeinen steht und seinen in den Nacken zurückgelegten Kopf monoton hin und her schwenkt, irritiert.

„Bei manchen Bären hatte das ganz gruselige Dimensionen“

Clara ist selbst nicht zu sehen, aber ihr kreisrunder Weg im Gehege umso deutlicher. Sie ist ihn schon so oft gelaufen, dass sie richtige Furchen in den Boden getrampelt hat. Es ist ihr Tick, den sie aus dem Mönchengladbacher Tiergarten mitgebracht hat. „Gerade jetzt an den kurzen, dunklen Tagen, bevor sie in Winterruhe gehen, verstärken sich die alten Stereotypien meist“, sagt Steinmeier. Doch gegen diesen Käfig im Kopf ist auch sie hilflos.

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