Geschichte von unten: Sind alle mit drauf?

Seit den 1960ern versucht die Geschichtswissenschaft, vom Fokus auf Eliten und den Westen wegzukommen. Den Schlüssel sehen viele im Netz.

Ein Flüchtling macht ein Selfie mit Angela Merkel

Selfie mit Angie – ein Foto für die Geschichtsbücher? Foto: dpa

Geschichte als Geisteswissenschaft hat ein Problem. Nicht erst seit gestern hat sie das, sondern eigentlich schon immer: Die Quellenlage aus den letzten Jahrtausenden ist immer noch ziemlich einseitig, da bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem Reiche und Bleiche die Mittel und die Position dazu hatten, ihr Leben und ihre Zeit für sich oder sogar öffentlich zu dokumentieren und diese Dokumente auch langfristig zu archivieren. In der Geschichtswissenschaft nennt man das „Victor’sHistory“: Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Sieger.

Das entgegengestellte Konzept der Postkolonialisten heißt „History from below“ – Geschichte von unten. Geschichte, die von der Vormachtstellung des Westens und der Eliten weggeht und sich hinsichtlich der Quellenbetrachtung und -auswertung einer Gleichberechtigung aller menschlichen Kulturen, Geschlechter, Hautfarben und gesellschaftlichen Stellungen annähert.

So weit die Utopie, die Wissenschaftler seit den 1960ern zu realisieren versuchen. Konkret wollen sie: Geschichte von allen über alle und über alles.

Und wohl noch nie war die Sammlung von vielen Erfahrungen vieler Menschen so einfach wie heute – dem Internet und den sozialen Netzwerken sei Dank. Kann mit ihnen das Problem der Geschichtsschreibung aus der Siegerperspektive selbst Geschichte werden?

Wir posten einfach

Auf Facebook, Twitter, Instagram und anderen sozialen Netzwerken schaffen die NutzerInnen gerade eine schier unermessliche Chronik von Alltagsgeschichte und Geschichte von unten für die Historiker und Sozialwissenschaftler nachfolgender Generationen. Die Hoffnung: Wir müssen nicht mehr das Glück haben, dass irgendein Archäologe in ein paar Jahrhunderten zufällig unser Tagebuch ausgräbt, um eine historische Spur zu hinterlassen, sondern wir posten einfach. Täglich, gleichberechtigt, schnell, unendlich teilbar. Dabei produzieren wir Quellen, die weder vergilben noch verbrennen können und uns für eine unbegrenzte Zeit einfach und übersichtlich zur Verfügung stehen. So weit diese Utopie. In der Realität ist es wieder einmal nicht so einfach.

Eric Meyer, Professor am Oxford Internet Institute, ist ein weltweit renommierter Fachmann in Sachen digitaler Geisteswissenschaft. Er sieht in der „digitalen Demokratisierung“ der Geschichte genauso viele Gefahren wie Chancen. Auf der einen Seite, sagt er, sei es in der Tat so, dass zukünftige Wissenschaftler uns „viel facettenreicher“ wahrnehmen könnten. So könnten sogar Inhalte wie Foodporn oder Selfies, die viele heute als nervig und überflüssig wahrnehmen, eine wertvolle Quelle für zukünftige Historiker sein. „Wenn Millionen Menschen täglich Porträts von sich oder Bilder ihrer Mahlzeiten posten, wird es uns viel über gesellschaftliche Trends, Emotionen und Gruppenverhalten erklären können“, glaubt er.

Eine Frau macht ein Selfie

Selfie-Szene in Lagos, Nigeria Foto: ap

Denn: Wer hatte in vorangegangenen Jahrhunderten schon die Muße niederzuschreiben, was es zu essen gab und was es kostete? Das konnten nur Menschen tun, die gebildet waren und die ein Vermögen hatten, das es ihnen erlaubte, sich um die vermeintlich unwesentlichen Dinge des Lebens zu kümmern. Und nicht nur unsere Gewohnheiten, auch die Wahrnehmung von politischen und gesellschaftlichen Ereignissen wird dank Twitter viel genauer und breiter ausgewertet werden können.

Fortsetzung des Sieger-Narrativs

Doch Meyer sieht in zwei Punkten eine Fortsetzung des Sieger-Narrativs: Auch im Zeitalter des Internets haben vor allem privilegierte und wohlhabende Menschen die Möglichkeiten und die Zeit, ihren Alltag zu inszenieren. Jemand, der den ganzen Tag hart auf einem Feld arbeitet, twittert, bloggt und postet nicht sehr oft. Hinzu kommt, dass laut dem Web-Index 2014/2015, den die World Wide Web Foundation herausgibt, immer noch 44 Prozent der Haushalte weltweit keinen Internetanschluss zu Hause haben.

Auch entscheidend: Wer archiviert das unendliche Quellenmaterial des Internets für die Nachwelt? Wer speichert, wer selektiert? Wer erlaubt wem den Zugang zu diesem Archiv? Unter dem Namen „Digital History“ richten historische Institute gerade weltweit Abteilungen ein, die an der digitalen Aufbereitung historischet Quellen arbeiten: neue Formate, internationale Vernetzung von Forschungseinrichtungen und Archiven sowie die interaktive Gestaltung von Daten sollen zu einer moderneren, globalisierten Disziplin führen. Langfristig soll das auch abseits der akademischen Elfenbeintürme zu einer vielfältigeren Betrachtung unserer Vergangenheit führen. Im Schulunterricht, im Alltag.

Zwei Männer und ein Handy am Meer

Selfie-Szene in Lesbos, Griechenland Foto: ap

Dafür schaffen Wissenschaftler wie Professor Rüdiger Hohls Plattformen. Hohls leitet den Fachbereich digitale Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Früher hieß seine Abteilung Historische Fachinformatik, heute ist es sein Anspruch, keine bloße Einzeldisziplin mehr zu verkörpern, sondern die gesamte Transformation der Geschichtswissenschaft in die digitale Zukunft mitzugestalten.

Der erste wichtige Schritt auf Hohls Liste: Historisch fundierte Alternativen zur Online-Enzyklopädie Wikipedia schaffen. Zusammen mit anderen historischen Instituten hat er drei solcher Foren aufgebaut: „h-sozio-kult“, das Portal „Europäische Geschichte“ und das Portal „Transnationale Geschichte“.

Zu viele Quellen

Auf diesen Foren, insbesondere auf dem Letztgenannten, soll eine weltweite Vernetzung von Wissenschaftlern und Nichtwissenschaftlern ermöglicht und Sprachbarrieren überwunden werden. Rezensionen, Vorträge und Essays werden hier in mehrere Sprachen übersetzt. So wird auch versucht, die Vorherrschaft der drei Wissenschaftssprachen Deutsch, Französisch und Englisch zu überwinden. Ein weiteres Ziel der Foren ist es, die Disziplin von der Monografie loszureißen und digitale Formate zu entwickeln, die international und auch für Nichthistoriker zugänglich und verständlich sind.

Nur: Bei diesen Portalen geht es in erster Linie darum, vorhandenes Material zu digitalisieren, aufzubereiten, zugänglich zu machen. Es ist die Digitalisierung von Geschichte – und nicht die digitale Geschichte.

Ein Mann macht ein Selfie

Selfie-Szene im Stadion von Werder Bremen Foto: dpa

Hohls sieht in der Zukunft der Archivierung unserer digitalen Identitäten eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. „Es ist der historische Normalzustand, dass 90 Prozent der Quellenlage nicht überdauert. Oft aus dem einzigen Grund, dass es einfach zu viele Quellen gibt.“ Machten Google und Facebook dicht, wäre das so gesehen eine Wiederherstellung der natürlichen Quellenlage. Ein Internet-Post ist schließlich doch genauso zerbrechlich wie ein Telegramm aus dem 19. Jahrhundert oder ein Papyrus aus dem alten Ägypten.

Wie die NSA?

Ob das gigantische Ausmaß an Alltagsgeschichte, das online und offline produziert wird, archiviert werde, sei außerdem keine rein wissenschaftliche Frage, sondern eine ordnungspolitische, sagt Hohls. „Oft diskutiere ich mit meinen Studenten. Was dürfen wir? Wollen wir sein wie die NSA und Menschen historisch bis ins Letzte durchleuchten? Wann dürfen wir eine Leiche zu Forschungszwecken ausgraben? Wie lange darf man die persönlichen Daten eines normalen Bürgers speichern? Das sind alles offene Fragen, die es zu beantworten gilt. Die Entscheidungsgewalt und die Verantwortung hierfür liegen aber nicht nur in der Geschichte, sondern vor allem bei den Politikern und der Gesellschaft im Ganzen.“

Ein digitales Gedächtnis versucht gerade die US-amerikanische Library of Congress zu sammeln: Seit über einem Jahrzehnt speichert sie zeitgeschichtliche Dokumente aus dem Internet. 2010 kündigte sie groß die Zusammenarbeit mit Twitter an: Man wolle jeden einzelnen Tweet sichern und öffentlich zugänglich machen. Bis heute wurde das Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt, die Archivierung von Tweets wird von einer privaten Firma vorgenommen. Bislang unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Nur für große Firmen gibt es Angebote für Social-Media-Analysen. Das Archivierungsteam der British Library arbeitet an einem Programm namens Twittervane, das es möglich macht, Tweets zu einem trendenden Thema über einen längeren Zeitraum auszuwerten. Auf diese Weise werden jedoch nur die sehr beliebten Inhalte archiviert. Wieder eine gigantische Selektion, die auf dem Siegerprinzip beruht.

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