Jugendliche bauen Wikingerschiffe: „Jeder hier bringt sein Päckchen mit“

Beim Projekt „Euro Viking“ gehen Jugendliche mit dem Drachenschiff auf eine Tour durch Europa – für viele ist es die einzige Möglichkeit, mal rauszukommen.

Erst bauen, dann fahren: Jugendliche bei der Arbeit am Wikingerschiff. Foto: Esther Geisslinger

SÜSEL taz | Wie viele Schulkinder sind notwendig, um ein Wikingerschiff über eine Wiese zu bewegen? „Etwa 60, drei Klassen“, sagt Christof Müller. „40 schieben, 20 legen Zweige nach.“ Weidenruten müssten es sein, „die sind glitschig, da rutscht das Boot.“ Diese Geschichte, dass die Wikinger ihre Boote auf Baumstämmen über Land gerollt hätten, sei schlicht Quatsch, meint Müller und lacht: „Ich weiß das, ich hab’s probiert.“

Mit seinem weißen Bart, den langen Haaren und dem lauten Lachen, bei dem sich sein Gesicht in Lachfältchen legt, sieht Müller selbst fast wie ein Wikinger aus, er müsste nur das blau-weiße Hemd gegen einen Kittel tauschen und die Kamera gegen ein Kurzschwert. Wobei: Dass die Wikinger nur tumbe Haudraufs waren, hält Müller genauso für Quatsch wie die Story mit den Baumstämmen.

„Die Isländer beispielsweise hatten eine weit entwickelte Demokratie“, meint der Vorstand des Vereins „Alte Schule“, der in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern mehrere Gästehäuser für Jugendfreizeiten unterhält. Darunter ist die „Tannenhöhe“ im Örtchen Süsel unweit der Lübecker Bucht, in diesem Sommer Hauptquartier des Projekts Euro Viking.

Christof Müller steht neben einem Boot, das unter einem Zeltdach auf einem Fahrgestell lagert. Der Steven reckt sich in die Höhe, die Seiten zeigen die Maserung von Holz. Nur die Farbe ist ungewohnt: Grünlich und leicht durchscheinend wirkt das Schiff wie ein Gespenst. In gewisser Weise ist es das – Müller hat vor einigen Jahren einen Abguss eines Original-Bootes aus dem Wikingermuseum in Haithabu bei Schleswig machen dürfen. So sind der elegant geschwungene Rumpf, die Sitzbänke, die Aussparungen für die Ruder aus einem Stück gegossen: Der Kahn ist aus Plastik. „Das ist praktischer“, sagt Müller. „Wir machen hier schließlich nicht Museum, sondern Pädagogik.“

Bei Euro Viking geht es um die „spektakuäre Umrundung Europas mit Wikingerschiffen“ – allerdings nicht am Stück, sondern verteilt auf viele kleine Gruppen und kurze Strecken, auf Flüssen wie Donau oder Dnjepr. Der zweite Werbespruch des Projekts, das seit mehreren Jahren läuft und von der EU gefördert wird, lautet denn auch weniger hochtrabend: „Segeln statt saufen, rudern statt raufen.“

Die Idee, mit Jugendlichen zu rudern, kam von Burghard Pieske, der in den 90er-Jahren mit einem nachgebauten Wikingerschiff den Atlantik überquerte und zahlreiche weitere Reisen unternahm. Er heuerte für eine Tour von der Ostsee zum Schwarzen Meer eine Gruppe Jugendlicher an – ohne Schulabschluss, arbeitslos, einige hatten im Knast gesessen, andere waren drogensüchtig. „Totales Chaos, offene Meuterei“ waren das Ergebnis, sagt Pieske in einem Interview.

Schließlich sei die Mannschaft aber zu einer „irgendwie funktionierenden Zwangsgemeinschaft“ geworden. Und nach der Reise kamen die begeisterten Anrufe aus dem Umfeld der Jugendlichen und die Bitte weiterzumachen. Pieske wandte sich an die Alte Schule, daraus entstand das jetzige Projekt.

Seither hat Christof Müller zahlreiche Reisen begleitet, und er bestätigt: Die gemeinsame Aktivität tut den Jugendlichen gut. Gerade wenn es hart wird, der Regen peitscht und der Wind von vorn kommt. Einen Hilfsmotor haben die kleinen, offenen Boote nämlich nicht: „Willst du irgendwo hin, musst du rudern. Das war bei den Wikingern eben so.“ Die verwegenen Kerle sind für Christof Müller vor allem ein Symbol – Menschen, die sich aufmachen, um fremde Küsten zu erforschen.

Es geht um greifbare Erfolge

Für die Reise braucht es Schiffe. Ein halbes Dutzend Jugendlicher werkelt an dem Plastik-Guss, die einen bringen Planken, die anderen befestigen die Bretter an den Seitenwänden. Wie das am Ende aussehen wird, zeigt der Blick zur Seite: Dort steht, auf einem ähnlichen Hänger, ein Zwilling des Bootes, allerdings schon voll ummantelt mit dünnen Planken, die den grünlichen Schimmer verdecken.

Viele Hände, zwei Wochen Arbeit, ein fertiges Schiff: Es geht um sichtbare, greifbare Erfolge. „Ewoca“ heißt das Konzept, die Abkürzung steht für „Europäische Jugend-Workcamps“. Beteiligt sind junge Frauen und Männer aus drei Ländern – bei dem Projekt in Süsel sind es Jugendliche aus Deutschland, Dänemark und der Ukraine.

„80 Prozent der Jugendlichen, die sich am internationalem Austausch beteiligen, sind in einem Studium oder auf dem Gymnasium“, sagt Katharina Teiting vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk (IBB). „Das wollen wir mit diesem Angebot ändern.“ Das IBB mit Sitz in Dortmund ist Träger der Workcamps, die aus dem Kinder- und Jugendplan des Bundes und durch die Stiftung Mercator gefördert werden. Zuerst gab es die Camps nur in Nordrhein-Westfalen, 2016 kamen Schleswig-Holstein, Brandenburg und Thüringen hinzu, und weitere Länder könnten folgen.

Das Besondere: Von deutscher Seite nehmen die Jugendlichen teil, deren Eltern kein Geld für Urlaub im Ausland haben und deren Noten nie für ein Auslandsstipendium reichen. Eben jene Jugendliche, die auch die Zielgruppe des Euro-Viking-Projekts sind – Jugendliche aus zerfallenen Familien, ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung, teilweise mit Drogenerfahrungen. „Jeder hier bringt ein Päckchen mit“, sagt Christof Müller.

Jessica zupft an dem Thor-Hammer, den sie an einer Kette um den Hals trägt: Ein Mitbringsel aus dem Wikingermuseum in Haithabu, das die Gruppe besucht hat. Jessica ist nur indirekt Mitglied des Workcamps: „Ich arbeite hier auf dem Gelände“, sagt die 29-Jährige stolz. Gerade habe sie den Volleyballplatz gesäubert, vorher rund um die Feuerstelle gemäht – „echt geschuftet“, sagt sie. Von der Alten Schule und der Tannenhöhe hatte sie von Freunden gehört, als sie nach Ratzeburg – die nächst gelegene größere Stadt – zog. „Ich habe die beim Amt echt bekniet, dass ich hierher darf“, sagt sie. Bis Dezember kann sie noch hier arbeiten, was dann kommt, weiß sie nicht.

Arbeitsplätze sind rar

So schön die Gegend mit ihren bewaldeten Höhen und Seen ist, Arbeitsplätze sind rar. Jemand wie Jessica, ohne besonders tolle Schulnoten, dafür mit einigen Jahren Arbeitslosigkeit im kurzen Lebenslauf, hat nicht die besten Chancen. Was mit Gastronomie hat sie mal gelernt, aber eigentlich „bin ich so ein kleiner PC-Junkie, Bilder bearbeiten und so finde ich toll“. Aber erst mal: Internationale Jugendbegegnung, Wikinger, Schiffe bauen. „Wikinger – da bin ich ein echter Fan“, sagt Jessica.

Christof Müller und Katharina Teiting schauen durch die pädagogische Brille auf die Camps: „In kurzer Zeit tut sich unendlich viel in den Jugendlichen.“ Viele sind zum ersten Mal allein unterwegs, und für viele sind Dinge wie gemeinsam in großer Runde essen oder im Zelt schlafen echte Abenteuer. „Sie erleben sich hier auf andere Weise, sie können Dinge probieren, sie kommen aus ihrer normalen Umgebung heraus“, sagt Müller.

So ging es auch Marvin. Der heute 18-Jährige hat bereits an mehreren Jugendreisen teilgenommen, jetzt steht er kurz vor einer Ausbildung. Vielleicht Tischler, das kennt er ja schon durch die Arbeit an den Schiffen. „Heimweh? Nö, hatte ich nie, auch nicht bei der allerersten Reise“, sagt der schlaksige Jugendliche.

Für Vika aus der Ukraine sind die Treffen „wie ein kleines Modell des Lebens selbst, alle sind aufeinander angewiesen und dadurch wird allen geholfen“. Vika studiert Sprachen, Deutsch ist ihre zweite Sprache. Und trotz der bitteren gemeinsamen Geschichte Deutschlands und der Ukraine „habe ich mich in Sprache und Kultur verliebt“, sagt sie. Die 28-Jährige war vor zwei Jahren als Teilnehmerin bei einem Workcamp dabei, jetzt ist sie eine der Leiterinnen der elfköpfigen Gruppe.

Die meisten ukrainischen Jugendlichen besuchen höhere Schulen oder studieren. Anfangs, erinnert sich Müller, „haben die ausländischen Jugendlichen ziemlich erstaunt auf unsere geschaut.“ Das Spannende sei, dass sich die Gruppen schnell zusammenraufen, über die Sprach-, die Kultur- und die Bildungsbarrieren hinweg. Vor allem den Deutschen täte der Kontakt gut: „Das beste Gegenmittel gegen Rassismus, das ich kenne.“

Für Vika und die anderen ist es wichtiger, einen Besuch in Ausland im Lebenslauf zu haben, auch wenn Süsel nicht gerade der Nabel der Welt ist. „Wir vermissen nichts, es ist schön hier“, sagt Vika. Und: „Auch bei uns brechen in dieser Zeit Fragen auf, wir entwickeln uns weiter.“

Im kommenden Jahr findet das Workcamp in der Ukraine statt. Projektkoordinatorin Katharina Teiting hofft, dass die Weltlage den Nachwuchs-Wikingern nicht in die Quere kommt. In diesem Jahr traf es Jugendliche und ihre Lehrer aus der Türkei, die nicht nach Deutschland ausreisen durften: „Da flossen Tränen, das ist wirklich bitter.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.