Armutsflüchtlinge in Südosteuropa: Bulgarien, ihr Paradies

Mit 771 Euro Rente lebt es sich nicht gut in Hamburg, dachte Gerlinde Weißach. Sie packte die Koffer und zog ans Schwarze Meer.

Eine Frau steht neben einem weißen Hund in einem Wohnzimmer

Sie googelte „Wenig Rente, wo kann man leben?“, und bekam Bulgarien als Treffer angezeigt Foto: Christian Jakob

KAWARNA taz | 3.500 Euro wollte eine Umzugsfirma. So viel hatte Gerlinde Weißach* nicht. Also sprach sie zwei Roma an, die mit einem kleinen Bus zwischen Hamburg und Bulgarien hin- und herfuhren. „Da brauchen wir uns nicht drüber zu unterhalten, was die Leute dazu gesagt haben“, sagt Weißach. Aber die Leute, ihre Freunde in Hamburg, hielten ihren Plan ohnehin für verrückt.

Zwei Wochen später saß Weißach auf der Rückbank des Busses der beiden, neben ihr eine Romni aus Wilhelmsburg, die in Bulgarien verheiratet werden sollte. Ihr Konto hatte Weißach leergeräumt und das Geld in den Bund ihrer Leggings eingenäht. Jetzt aber dachte sie, dass sie eher an einer Rauchvergiftung sterben als dass sie ausgeraubt würde, die beiden rauchten eine Zigarette nach der anderen. Sie fuhren die 2.700 Kilometer ohne größere Pause durch. Trotzdem kamen sie fast einen halben Tag zu spät an. Spät in der Nacht hatte sie mit den Roma alle Sachen die Treppe hochgetragen, es gab keine Heizung und so legte sie sich mit Mütze, Schal, Wintermantel und Handschuhen unter zwei Bettdecken. Sie fror trotzdem, weinte, aber sie dachte: „Jetzt bist du da.“

21 Monate später sitzt die 61-jährige Frührentnerin auf der Terrasse ihrer lindgrünen Villa in der Fußgängerzone von Kawarna, 11.000 Einwohner, ganz im Norden der bulgarischen Schwarzmeerküste. Sie trägt Puma-Stiefel mit Goldabzeichen. Gerlinde Weißach ist nicht ihr richtiger Name, den will sie nicht in der Zeitung lesen, dass die Leute sie nicht googeln und das alte Leben ins neue hineinreicht. Weißach sagt, sie lebe hier „wie im Paradies“.

Das Haus war das erste, das sie sich anschaute. „Es gibt keinen Zufall, nur Schicksal.“

Die Wohnung ist jetzt voll eingerichtet, dekoriert mit ihren eigenen Bildern, gute 100 Euro Miete. „Einmal im Monat muss von oben bis unten richtig geputzt werden.“ Allein schafft sie das nicht, „aber ich habe eine Putzfrau. In Deutschland hätte ich höchstens als Putzfrau arbeiten können.“ 10 Euro gibt sie der, „das ist mehr, als andere bezahlen.“

Täglich Talkshows schauen?

In Hamburg „konnte ich am Café höchstens mal vorbeilaufen,“ hier setzt sie sich rein, jeden Morgen, in das kleine Bistro am Ende der Straße und bestellt einen Espresso. Sie isst gern Obst, sagt sie, das Kilo Kirschen kostet 1,80 Euro – in Hamburg waren es 6,90 Euro. Essen gehen, bei der Muschelbank, unten, am Meer, 3 Euro. Sie kann verreisen, sagt Gerlinde Weißach. Sie war jetzt schon mehrmals in Rumänien, St. Petersburg, Moldawien, bald will sie in die Mongolei. Der Hund kriegt Reis mit Hähnchen. „Kann man sich alles erlauben hier“, 35 Cent das Kilo. Keine Fernsehgebühren, keine Hundesteuer. „Da kann ich sogar noch was sparen.“ Bald will sie sich einen Laptop kaufen.

In Hamburg war das nicht so. 771 Euro Rente und 491 Euro kostete die Dreizimmerwohnung in St. Pauli. „Und das war schon günstig da.“ Wenn die Fixkosten bezahlt waren, blieben 120 Euro übrig. Gerlinde Weißach musste Lebensmittel von der Armentafel beziehen. „Wenn mal was kaputt war, das war ein Grund, in Tränen auszubrechen, das hat an den Nerven gezerrt.“ Sie hätte in eine Hochhauswohnung ziehen können, aber da wollte sie nicht „versauern, den ganzen Tag Talkshows gucken“. Irgendwann sagte ihr Sohn zu ihr: „Ich kann das Wort Geld von dir nicht mehr hören“, und dann gab sie bei Google ein, was sie wissen wollte: „Wenig Rente, wo kann man leben?“, und Google zeigte ihr Seiten an, auf denen Auswanderer geschrieben hatten, dass Bulgarien ein solcher Orte sei.

Ihr Konto hatte sie leer geräumt und das Geld in den Bund ihrer Leggings eingenäht

Früher hatten Bekannte der Alleinerziehenden geraten, doch dort mal Urlaub zu machen, während ihr Sohn mit einer Jugendgruppe verreist, es sei günstig dort. „Ich bin doch nicht verrückt, so trist und das ganze Sozialistische“, hatte Weißach da gesagt. Aber später dann las sie, dass die deutschen Auswanderer in Bulgarien ganz zufrieden waren, und 2011 buchte sie eine Pauschalreise zum Goldstrand und verabredete sich mit einem deutschen Pärchen, dass seinen Lebensabend dort verbringt.

Nachdem sie das erzählt hat, geht sie hinein in die Wohnung und kommt zurück auf die Terrasse und legt ihren deutschen Ausweis von 2011 und den bulgarischen von 2014 nebeneinander. „Da sehe ich doch verhärmt und vergrämt aus“, sagt sie, „aber da“, sie deutet auf den Ausweis aus Bulgarien, „sehr erholt“.

Schiffsstewardess und Gewerbekauffrau

Sie stammt aus Bünde. Als sie jung war besuchte sie in Osnabrück Jazzlokale, irgendwann zog es sie nach Costa Rica, Schiffsstewardess, am Ende geht sie nach Hamburg. Ein Mann aus Sri Lanka ist der Vater ihres Sohnes, Weißach ist fast 40, als er geboren wird, Kaiserschnitt. Es gibt einen Narkoseunfall, Intensivstation, Koma. Sie erholt sich nie wieder. Sie arbeitet bei einem Ölhändler, später als „Gewerbekauffrau“. Weißach inseriert in Partnerbörsen für Auswanderer, Überschrift: „Letzte Liebe gesucht“. Sie zieht ihren Sohn allein groß, jahrelang Therapie, mit 54 stuft die Sozialversicherung sie endgültig als Rentnerin ein. Gute zwanzig Jahre hat sie in ihrem Leben gearbeitet. „Ich mache nicht den Staat verantwortlich, ich habe selbst nicht genug vorgesorgt“, sagt sie.

Sie nimmt den Hund an die Leine, wie jeden Abend läuft sie über die Betonplatten der Fußgängerzone, vorbei an den Postern für die Mixed-Martial-Arts-Schaukämpfe in der Kreisstadt, die an den Schaufenstern der leeren Geschäfte hängen. Jedes Mal, wenn ein Bekannter sie mit dem Auto zum Großmarkt in Varna mitnimmt, „bin ich froh, zurückzukommen. Die Großstadt erschlägt mich“, sagt sie.

In Deutschland hat sie bei der „Börsenastrologin Iris Treppner“ ein Zertifikat gemacht, Wahrsagerin nach dem „Lenormand“-Kartenlegesystem. Manchmal arbeitet sie für eine Hotline, 1,86 Euro die Minute. „Ich sage denen aber immer: Es ist ein Spiel, zur Inspiration.“ Jeden Tag legt sie sich selber auch die Karten. „Wenn ich abends noch mal draufschaue, dann stimmt das fast immer.“ Nur die Karten zu ihrem rumänischen Freund, die liegen auf „Kein Wiedersehen“.

„Das kann mein Kopf nicht“

Bulgarisch kann sie nur verstehen, nicht sprechen. „Es ist die achtschwierigste Sprache auf der Welt. Was du abends lernst, ist morgens aus dem Kopf raus“, sagt sie. Bulgarischunterricht gibt es hier nur auf Englisch. „Das kann mein Kopf nicht.“ Vor zwanzig Jahren, glaubt sie, hätte sie es gepackt. Sätze, Einkaufslisten schreibt sie deshalb vom Google-Translator mit der Hand ab. „Wenn man es fast täglich macht, geht es in Fleisch und Blut über.“

Am nächsten Tag Mittagessen im Bistro am Ende der Fußgängerzone. Weißach bestellt: Makrele gegrillt, Krautsalat, Karamellpudding, ein Aloe-Vera-Drink „mit Stückchen“. 1,90 Lewa, umgerechnet 97 Euro-Cent. „Das ist so günstig“, sagt sie. Eine Freundin ruft an. Bei einem Straßenhund in der Kreisstadt Dboritsch, 55 Kilometer entfernt, hat sich die Pfote entzündet. „Von 100 Hunden sterben 63 an Infektionen,“ sagt Weißach. Sie ruft eine andere Frau an, auch sie an die Schwarzmeerküste ausgewandert. „Streunerhilfe ohne Grenzen“ heißt die Initiative. Die Gegend ist voll mit Straßenhunden. „Langweiligwird’sda nie“.

Trotz der Sprache hat sie mehr Kontakt mit Bulgaren als mit Deutschen. Touristen spricht sie nicht mehr an. „Welten trennen uns. Bei Bulgaren ist es genauso. Es ist, als ob ich mich in einer Zwischenwelt befinde.“ Es gibt einen Auswanderer-Stammtisch, aber die sind alle untereinander zerstritten. Eine ältere Frau hat sie kennengelernt. Aber die mag keine Hunde. Im Sommer war der Sohn hier, 14 Tage lang, zum ersten Mal, seit sie herzog. Und dann? „Mitte Oktober werden die Bürgersteige hochgeklappt.“ Sie male viel, doch im Winter sei es sehr einsam. „Deswegen hätte ich eigentlich ganz gern einen letzten Lebenspartner.“

Die Bulgaren in ihrem Alter, die „sind wie bei uns 85-Jährige, die können nicht mit dem Computer umgehen.“ Sie sucht jemanden, der auch „das geistige Futter bietet“. Seniorenportale im Internet hat sie ausprobiert. „Aber die meisten haben sich letzten Endes nicht getraut.“ Zwei Stunden täglich übersetzt sie mit Google die Briefe von einem Boxer aus Rumänien, eine alte Liebe. „Du bist frei, du musst nicht auf mich warten“, schrieb er einst. Trotzdem schickt er ihr jeden Tag eine Mail. „Und so habe ich nie den Kopf frei für andere Männer.“

Nie wieder Deutschland

Aber trotzdem geht es ihr gut. Auch, wenn man das Leitungswasser in Kawarna nicht trinken kann und sie die 10-Liter-Kanister die kleine Treppe hochtragen muss. Auch wenn der Strom immer wieder ausfällt. „Es gibt im Leben nichts umsonst, das ist der Preis, den ich bezahlen muss.“ Nach Deutschland will sie nie zurück. „Ich kriege ganz komische Gefühle, wenn ich daran denke. Ich hab schon mal geträumt, ich müsste zurück. Das waren keine guten Träume.“ Es gibt in Hamburg „viele Leute, die gern gesehen hätten, dass das nicht klappt und ich reumütig zurückkomme“. Aber da müsste es schon schlimm kommen, gesundheitlich.

Die deutsche Krankenversicherung wird direkt von der Rente abgezogen, 140 Euro. Sie gilt auch im EU-Staat Bulgarien. „Aber das ist nur Theorie, dass unsere Karte hier funktioniert“, sagt Weißach. „Die meisten Praxen können die gar nicht lesen.“ Ihre zweite, bulgarische Versicherung kostet 80 Euro im Jahr, aber für viel kommt die nicht auf. Im staatlichen Krankenhaus muss jeder Patient nur zwei Lewa bezahlen, aber es hat bis heute keinen Narkosesaal und einen Krankenwagen, der nicht schon dreißig Jahre alt ist, gibt es erst seit Kurzem, und das nur, weil er aus Hameln gespendet wurde.

Zur Not könnte sie sich auch eine Pflegerin leisten. „Das kann ich abzweigen von dem Geld.“ Falls es später schlimmer wird, hat sie auch schon einen Plan. Die Altenresidenz in Burgas heißt das „Grüne Haus“. Sie hat sie im Internet entdeckt. 350 Euro im Monat, „man darf nur nicht der totale Pflegefall sein.“

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