Berliner Szenen
: Gerüstbauer

Hab’ne Latte

Eine Stimme schält sich aus dem Lärm heraus

Es ist ein Scheppern und Knallen. Am Nachbarhaus fanden in den letzten Monaten Dacharbeiten statt, und nun wird das Gerüst abgebaut.

Ich sitze mit den Kindern bei offenem Fenster in der Küche und eines ist sicher: Dachdecker sind leiser als Gerüstbauer. Musik scheppert aus einem Radio. Laute, aggressive Männerstimmen hallen durch den Innenhof.

Eine Stimme schält sich aus dem Lärm heraus, erhebt sich und dann hören wir eine Mischung aus Schmerzensschrei und Hilferuf: „Digga, ick hab ne Latte!“ Dann eine andere schreiende Stimme: „Boah, Alta!“

Da muss irgendwas gründlich schiefgegangen sein, wenn der am frühen Morgen mit erigiertem Penis das Gerüst eines Hauses abbaut und seinem Kollegen mitteilt, dass er mit einem erigiertem Penis das Gerüst eines Hauses abbaut.

Die Tochter, die sich mit ihren Gedanken bei dem heutigen Klassenausflug aufhält, isst ungerührt ihr Müsli weiter. Der Sohn hebt, halb belustigt, halb empört, seinen Kopf und sieht mich an. „Was für Idioten“, sage ich, was keine adäquate, aber immerhin eine Reaktion ist. Der Sohn nickt.

Ich muss an I. denken, die nicht weit entfernt in diesem halboffenen Innenhof wohnt, und sollte sie bereits wach sein und ein Fenster geöffnet haben, so wird auch sie es hören, sie, die gerade ein Buch über Feminismus veröffentlicht hat.

„Yeaaahh, Alta, Scheiße!“, röhrt es.

Das Schöne an unserer Welt ist ja, dass die sein dürfen, wie sie sind, wenn sie nur laut sind und keine praktischen Schlüsse daraus ziehen. Schön ist auch, dass sie kein Buch über Feminismus lesen müssen. Und sollten sie doch das Buch von I. lesen, gar schon heute damit beginnen, würden wir wohl auch morgen wieder hören: „Yeaaahh, Alta, Scheiße!“ Aber vielleicht wären sie auch leise, ganz leise.

Björn Kuhligk