Die Wahrheit: Scharmützel im Schlaraffenland

Nach dem allmählichen Niedergang der EU blüht von Osterodien bis zur Scholle Parchim eine neue Klein- und Kleinststaaterei.

Illustration: Ari Plikat

Europa 2018: Nach dem Brexit folgten der Czexit, der Däxit, der Frexit, der Beneluxit und schließlich der Austrit. Die EU war erledigt – nur Griechenland wollte am Ende noch Mitglied sein. Aber mit der Rückkehr zu den alten Nationalstaaten war die Kettenreaktion keineswegs beendet. Der Kontinent zerfiel in immer kleinere crafted states: handgemachte und doppelt gehopfte Gemeinwesen mit eigener Währung, eigener Religion, eigener Hymne et cetera, et cetera … Die Wahrheit war schon einmal unterwegs im neuen, bunten Deutschland.

Olaf M. arbeitet in Berlin-Mitte und wohnt in Kreuzberg. „Neuerdings muss ich auf dem Weg zur Arbeit drei Staatsgrenzen überqueren und jedes Mal Geld tauschen und meine Stullen verzollen. Ich bin gerade bei Band 6 von meinem Reisepass, und die 400 Seiten sind auch schon wieder fast vollgestempelt. Ich war ja damals auch für die Autonome Republik Kreuzberg und bin Mitglied der Landwehr – nieder mit dem Neuköllner Kalifat! Aber es nervt schon. Vor allem das mit den Vorfahrtsregeln!“

Wildwuchs der Willkür

Dabei hatten sich 750 nord- und westdeutsche Staaten kürzlich im „Westfälischen Kompromiss“ immerhin auf die Formel Cuius regio, eius regelio verständigt, um den Wildwuchs willkürlicher Regeln und Schilder einzudämmen. Seither gilt: Rechte Regierung: rechts vor links. Linke Regierung: links vor rechts. Politisch gut informierte Autofahrer haben also eine Chance, Unfälle und Bußgelder zu vermeiden.

Die vielen Regeln, die nur Knöllchen provozieren sollen, haben natürlich einen Grund: Die allermeisten Kleinstaaten sind zwar stolz, aber pleite. Sozialleistungen wurden in fast allen Gemeinwesen gestrichen – stattdessen bekam jeder Haushalt einen 3-D-Drucker zur Selbstversorgung hingestellt. Und gegen den Lebensmittelmangel in Gebieten ohne fruchtbare Böden wie etwa der Domplattenrepublik Köln engagieren sich seit 2017 die Vereinten Rationen.

Der Ressourcen- und Personalmangel ist so eklatant, dass oft der Bock zum Gärtner gemacht werden musste. So gibt es in Ober-Rauxel West („Nie wieder Castrop!“) nur noch einen Polizisten, der zugleich auch der einzige Richter, Staats- und Rechtsanwalt ist. „Gewaltenteilung haben wir natürlich trotzdem“, schmunzelt der unsympathische Schnurrbartträger, „ich teile mir meine Arbeit ganz genau ein.“ Und der einzige verbliebene Landwirt des Ländchens „Parchimer Scholle“, Heinrich Haberer, nimmt zugleich die Funk­tio­nen des Lebensmittelkontrolleurs und des Tierschutz- und Umweltbeauftragten wahr.

Aber der Stolz auf die eigene Identität ist im Schlaraffenland der Ehre unübersehbar. „Endlich haben wir unser Land zurück!“, tönt Frank Franke, der Landeschef der freien und südlichen Gaue des ehemaligen nordostfränkischen Kreises (West). Zornig blickt er nach Süden und schüttelt die Faust. Jenseits der improvisierten Grenzanlagen stehen Transparente in Frakturschrift: „Nationale Ehre verteidigen! Das Altmühlufer bleibt südfränkisch!“

„Warum nur wollten die nicht mit uns zusammen gegen die Oberpfälzer kämpfen? Ich würde sie ja gerne mit Gewalt zurückholen – aber wir haben einfach keine Leute.“ Ob das damit zu tun habe, dass jeder, der nicht Frank heiße, diesen Teil Frankens verlassen müsse? Und warum er eigentlich Sächsisch spreche? Schon wieder hebt er drohend die Faust, und wir verdrücken uns schnell über die Grenze.

Grenzkriege leiden am Personalmangel

Wegen des Personalmangels sind in fast allen Teilen Deutschlands die Grenzkriege und die Fußballmeisterschaften zusammengelegt worden. So auch dieser Tage in Füssen. Die Trainer, die auch Staatsoberhäupter sind, haben vor dem Spiel vereinbart, dass bis zu sechs gefallene Spieler pro Schlacht ausgetauscht werden dürfen. Bei gleicher Opferzahl nach 90 Minuten wird die Schlacht um zweimal fünfzehn Duelle Mann gegen Mann verlängert.

Hintergrund des Scharmützels ist ein Transparent, das seit Tagen unübersehbar vom Schloss Neuschwanstein herunter ins Tal leuchtet – auf Japanisch und Deutsch: „Unsere Ehre darf nicht mit Füssen getreten werden. Abspaltung der Volksrepublik Neuschwanstein jetzt!“

Solch pittoreske Geschichten gibt es landauf, landab: Villingen und Schwenningen trennten sich nach erbittertem Bürgerkrieg; die schwenningsche Minderheit in Villingen spaltete sich danach als „Villingen Südost“ (Eichenstraße und angrenzende Wohngebiete) ab. Schilder im Stadtbild zeugen von der brisanten Lage: „Halt! Staatsgrenze! Schusswaffengebrauch! Überqueren der Stiefmütterchengasse ohne gültige Ausweispapiere strengstens untersagt!“

Zwölfmal durch den Zoll

Nur selten hört man ein Murren: „Den Wochenendeinkauf im Einkaufszentrum muss man im Schnitt zwölfmal verzollen, bis man wieder zu Hause ist. Und unsere Straße haben sie in zwei Jahren 23 Mal umbenannt“, seufzt Elli B. aus dem Rayon Bautzen. Häufiger aber sind stolze Statements wie dieses hier aus Leipzig-Connewitz: „Wir sind ein souveräner Staat und verbitten uns die Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten durch Tante Frieda. Es bleibt bei Apfelkuchen am Sonntag! Marmorkuchen verträgt sich nicht mit unserer Verfassungsordnung!“

Aber die neue Kleingartenidylle bleibt nicht unberührt vom internationalen Geschehen. Auch wenn die Globalisierung rückabgewickelt wird und Tauben nicht mehr bekämpft werden, weil sie wegen der Zölle auf Strom die Mailprovider ersetzen müssen: Weltpolitik geht weiter. Da es Belgien nicht mehr gibt, den Flamen und Wallonen der Spaltpilz aber seit Urzeiten in den Genen steckt, wurden sämtliche Zerfallsstaaten der einstigen EU völkerrechtlich verpflichtet, Flamen und Wallonen einzubürgern, damit sie sich weiterhin bis aufs Blut zanken und vom jeweiligen Gastland abspalten können.

Vereinzelt gibt es übrigens wieder Internationalisten, die weit über ihren nationalen Horizont hinausdenken. Die Vision der „Fortschrittlichen Berliner gegen Kleinstaaterei“ drückt sich in den sehnsuchtsvollen Zeilen ihrer Hymne aus: „Von der Spree bis an die Havel, vom Bahnhof Zoo bis Prenzlberg.“ Die Internationale Liga zur Verhütung der Inzucht veranstaltet multilaterale Kontakt-Kreuzfahrten auf sogenannten Parships. Und junge Leute wollen weiterhin etwas von der Welt sehen. So umfasst die „Grand Tour“ eines Braunschweiger Studenten momentan immerhin: Osterodien, den Schachtstaat Konrad, den Kanton Brocken, den Stadtstaat Helmstedt-Ost und den Weiler Langelsheim.

Internationale Initiative

Mehrere europäische Großmächte haben kürzlich eine Ini­tiative gestartet, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden. An dieser Rückkehr auf die internationale Bühne nehmen unter anderem Oldenburg-West, die ligurische Riviera und die Countryside Beneath Maidstone teil.

Aber auch das ist Weltpolitik: China will der ehemaligen EU seit zwei Jahren den Krieg erklären, ist aber immer noch mit der Vervollständigung der Liste der Kriegsgegner beschäftigt. Außerdem droht jetzt China selbst der Zerfall in Kleinstaaten, wie Industrieminister Mi Tu betreten mitteilte.

Was die Zukunft bringen wird, steht in den Sternen. Aber so viel steht fest: Wenn Jupiter-Ost in Opposition zum Sternbild „Rechtes Hinterrad des Kleinen Wagens“ steht, droht weiteres Ungemach . . . und

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