Sónar-Festival in Barcelona: Austausch von Kultur und Daten

Übers Wochenende trafen sich in Barcelona zum 22. Mal die Aficionados der elektronischen Musik. Was wurde aus den Ansprüchen der Anfangsjahre?

Die Künstlerin Anohni auf einer Bühne und in Großaufnahme auf mehreren Leinwänden, davor sehr viele Zuhörer

Wissen ist Macht: Anohni beim Sónar-Festival in Barcelona Foto: Ariel Martin

Als das Sónar-Festival 1994 ins Leben gerufen wurde, war es eines der ersten seiner Art: ganz der elektronischen Musik und den digitalen Künsten verpflichtet, aber gleichzeitig offen für experimentelle Musik und Kultur.

Eine Generation später ist aus der Nischenveranstaltung in Barcelona ein Festival geworden, das jährlich an mehreren Orten auf der ganzen Welt veranstaltet wird – 2017 werden auch Sónar-Festivals in Reykjavik, Stockholm, Hongkong und Istanbul stattfinden. Bei der gerade zu Ende gegangenen 23. Ausgabe in Barcelona wurden rekordverdächtige 115.000 BesucherInnen aus 101 Ländern gezählt.

Es mag elitär klingen, aber manche bedauern, dass das Festival – einst Treffpunkt einer engagierten Minderheit – zur Spielwiese gleichgültiger Hedonisten geworden ist. Um dem Zuschaueransturm gerecht zu werden, erweiterte Sónar nicht nur Bühnen, Soundsysteme und die Zahl der Angestellten. Auch beim Booking hat sich einiges verändert: Während das Programm anfangs noch Aushängeschild für künstlerische Abenteuerlust und Relevanz war, macht es inzwischen viel mehr kommerzielle Kompromisse.

So eine Entwicklung ist nicht ungewöhnlich. Sie spiegelt aber auch die aktuelle Entwicklung von elektronischer Musik und Subkultur in der öffentlichen Wahrnehmung.

Hipster und Internet

Der Begriff „Hipster“ ist zwar schon zu durchgekaut, um diese Entwicklung zu erklären. Doch hat die zunehmende Zahl der Hipster – zusammen mit dem Internet – dazu geführt, dass die Haltung dieser informierten Minderheit Kreise zog und bei einem neuen, glamourösen Underground größere Aufmerksamkeit erlangte. Wenn Wissen Macht ist, definiert sich kulturelles Kapital aus jedem, den du kennst oder der dich kennt.

Anohnis kraftvolle Performance in Barcelona etwa war flankiert von Videos des ehemaligen Supermodels Naomi Campbell. Campbell ist viel bekannter als die britische Transgender. Es reicht offenbar nicht aus, dass Anohni mit ihrer einzigartigen Stimme düstere Textsplitter wie „Execution, it’s an American dream“ vorträgt.

Und wenn auch Naomi Campbells Erscheinung mehr war als nur ein schönes Gesicht und ein sexualisierter Körper – insbesondere in Zusammenhang mit dem Rest der Performance: Ein Videoporträt von Frauen im Übergang von jung zu alt zeigte, dass der Gebrauch der Bilder während des Konzerts auch Austausch kulturellen Kapitals ist.

Drake droppt Skeptas Namen

Ebenso profitierte der britische Grime-Rapper Skepta von prominentem Beistand. 2009 hatte er in Großbritannien mit „Rolex Sweep“ einen Hit, aber sein Stern ging erst so richtig auf, als der kanadische HipHop-Star Drake anfing, regelmäßig Skeptas Namen in den sozialen Medien zu droppen.

Die neue Promibekanntschaft war seiner Karriere zuträglich, aber Skepta hat trotzdem nicht vergessen, woher er kommt: In der zweiten Hälfte seines Sets beim Sónar-Festival holte er fast die gesamte Boy Better Know Crew auf die Bühne – Rapper, DJs und Produzenten aus seinen Flegeljahren im Londoner Problemviertel Tottenham.

Manche Künstler existieren komplett außerhalb dieses Austauschmodells. Der deutsche Produzent Alva Noto (Carsten Nicolai) arbeitet zwar regelmäßig mit der japanischen Poplegende Ryuichi Sakamoto zusammen, aber durch seine andauernde ästhetische Klarheit, sowohl musikalisch als auch visuell, ist diese künstlerische Beziehung absolut gleichberechtigt.

Nicolais Label Raster-Noton und das Sónar-Festival haben ebenfalls eine lange gemeinsame Geschichte, von der beide profitiert haben. In Notos 20-jähriger Karriere ist seine Spielart von Minimal melodischer und kompositorisch vielschichtiger geworden, aber immer noch ist der rigorose Elektroniksound erkennbar, der zu Nicolais Markenzeichen wurde.

Kunst im Kommerz

Die Auftritte der drei Raster-Noton-Acts Alva Noto, Cyclo und Byetone, Oneohtrix Point Nevers Soloperformance, die britische Künstlerin Gazelle Twin, Kind Midas Sound & Fennesz sowie Kode9 & Lawrence Leks audiovisuelle Livedarbietung des Films „The Nøtel“ waren Beweis dafür, dass es inmitten allen Geldes, aller Sponsoren und allen Kommerzes dieses Gigafestivals immer noch Raum gibt für experimentelle und herausfordernde Kunst.

Speziell der New Yorker Oneohtrix Point Never wirkte in seiner linkischen Art wie eine Offenbarung. Seine Popularität als Künstler ist ein wunderbares Beispiel für die positive Kraft von kulturellem Austausch, der ZuhörerInnen vor neue Herausforderungen stellt.

Selbstverständlich funktioniert kultureller Austausch auch in die andere Richtung. Die Geschmacksbildner des Untergrunds dienten sich Main­stream­pop auf eine Weise an, die bisher als unmoralisch galt. Man könnte darüber diskutieren, inwieweit Pop tatsächlich die Speerspitze einer elektronischen Avantgarde ist, wichtiger ist vielleicht das Einsickern von Ideen.

Selbstverliebte Selfiekultur

Man nehme beispielsweise die unterhaltsame Performance der US-Sängerin Santigold, die mit quirligen Bashment-Sounds versehen war. Selbst wenn man nicht auf ihre Texte achtete, nahmen die begleitenden Bilder auf den Videoleinwänden spielerisch die selbstverliebte Selfiekultur und die stereotype Darbietung von Weiblichkeit im Speziellen und Pop im Allgemeinen aufs Korn. Das war unterhaltsam und regte zugleich zum Nachdenken an, während man nahtlos zur Performance von Anohni überwechselte, die mit einer emo­tions­geladeneren, expliziten und beißend politischen Botschaft aufwartete.

Das Rahmenprogramm beinhaltete Künstlergespräche (ich habe auch ein Panel moderiert), kleine ­Installationen, der Kanadier Ritchie ­Hawtin etwa hielt einen Workshop, Equipment wurde gehandelt, und Brian Eno hielt einen Grundsatzvortrag. Noch eindrucksvoller war die technische Ausstattung rund ums Festival: WLAN war überall frei zugänglich.

RFID-Armbänder

Und es gab die störenden personalisierten RFID-Tag-Armbänder, die alle BesucherInnen verpasst bekamen. Ordner scannten jeden beim Betreten und Verlassen des Geländes. Zwar machten die mit Geld aufgeladenen Armbänder Barzahlung überflüssig. Das ermöglichte dem Veranstalter aber auch, das nicht verprasste Guthaben einzusacken, wenn man es nicht zurückforderte, und exakt nachzuvollziehen, wer etwas wann und wo gekauft hat.

Es gibt also nicht nur kulturellen Austausch, sondern auch den Austausch von Daten im großen Stil und so einen bedenklichen Verlust an Privatsphäre. Äußerst ernüchternd, handelt es sich doch bei Sónar um ein Festival, bei dem einer der Headliner – der französische Synthesizerzauberer Jean-Michel Jarre – kürzlich auch mit Edward Snowden zusammengearbeitet hat.

So sehr Kulturjournalisten wie ich gern weiterhin über die Art von Musik und Kunst berichten, die Festivals wie das Sónar auszeichnet, so sehr sollte man beachten, wie immer umfangreichere technische Finessen unsere Wahrnehmung ganz alltäglicher kultureller Interessen beeinträchtigen. Wissen ist Macht bedeutet heute, dass mit neuester Technologie Wissen über uns generiert wird.

Aus dem Englischen von Sylvia Prahl

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.