Mitmachen: Die Medaillen an der Pinnwand

Für die Ausrichter geht es um mehr Teilhabe: Fast 5.000 Athletinnen und Athleten starteten bei den Special Olympics in Hannover – auch Agnes Wessalowski.

Nach 100 Metern im Ziel: Agnes Wessalowski wurde Dritte Foto: Sebastian Gollnow/dpa

HANNOVER taz | Vor dem Lauf braucht sie Ruhe. Konzentriert schaut Agnes Wessalowski auf die Aschenbahn vor sich, schüttelt ihre Hände aus, klopft sich über Arme und Beine. Sie steht an der Startlinie zum 100-Meter-Lauf-Finale, es geht um Medaillen. Als ihr Name über den Lautsprecher angekündigt wird, ertönt Jubel, die 35-Jährige selbst lässt sich davon nur kurz aus ihrer Konzentration reißen. Dann der Startschuss. Wessalowski ist die Kleinste in ihrer Startgruppe, aber sie hält gut im Hauptfeld mit. Es bleibt eng bis zum Schluss. Ihre Zeit – egal. Darum geht es nur am Rande. Sie wird Dritte; eine weitere Medaille für ihre Sammlung.

Agnes Wessalowski ist eine von rund 4.800 Athletinnen und Athleten, die in Hannover bei den Special Olympics angetreten sind – den nationalen Spielen für Menschen mit geistiger Behinderung. Vom vergangenen Montag bis zum Freitag maßen sie sich in 18 Sportarten, darunter Leichtathletik, Fußball und Schwimmen, Judo, Kanu und Reiten.

Wie viele Medaillen sie schon hat? Wessalowski winkt ab: „Ganz viele.“ Die sammelt sie an einer großen Pinnwand in ihrer Wohngruppe in Nettelnburg, einem Ortsteil von Hamburg-Bergedorf. Wessalowski ist vielseitig: Sie räumt auch beim Schwimmen regelmäßig ab. „Ich schwimme sehr gut“, sagt sie selbstbewusst. Am liebsten Brust oder Freistil, „Rücken eher selten“.

Vom Schwimmtraining kennt sie auch Jens, ihren „Mitbewohner und Geliebten“. Er wohnt in derselben Wohngruppe, dienstags und donnerstags treffen sie sich in seinem Zimmer – zum Fernsehen: Dienstags gibt es „Baywatch“ von der DVD – die alten Folgen mit David Hasselhoff. Donnerstags, nach dem Training, schauen sie gemeinsam „Alarm für Cobra 11“ – „unsere Lieblingsserie“. Agnes isst dazu Chips, Jens Salzstangen. Tagsüber arbeitet sie als Schauspielerin im Theater Klabauter. Derzeit ist sie dort die Scherenschleiferin im Stück „Glücklos glücklich“. Da singt sie auch: „Ich singe sehr gerne.“

Beim 100-Meter-Lauf lief es für sie besser als vorher beim Weitsprung: zwei von drei Versuchen ungültig. „Ich bin zweimal übergetreten“, sagt sie etwas enttäuscht. Weil der Abstand zwischen Absprunglinie und Sandgrube in jedem Stadion anders ist, passiert das leicht mal. „Damit hatte ich in L.A. schon Probleme“, sagt Wessalowski und meint die Sommerweltspiele im vergangenen Jahr. Da konnte sie sich auch Hollywood anschauen. „Das hat Spaß gemacht“, erzählt sie begeistert. Auch in Südkorea war sie schon, und für die nationalen Spiele in München und Düsseldorf. Ihre Familie hat sie immer dabei: Ein kleiner Stapel Fotos hat sie von ihren Eltern, ihrer Schwester und von Jens. „So kann ich ihnen besser gute Nacht wünschen“, sagt sie. „Ohne meine Familie kann ich nicht leben.“

Ein Name, der immer wieder fällt, ist der ihres Trainers Björn. Weil Björn von Borstel zum Organisationsteam der Special Olympics Deutschland gehört, kann er sie in Hannover leider nicht begleiten. Aber sie weiß, dass er in der Nähe ist, im Büro in der Tribüne, oben im Erika-Fisch-Stadion. Verlässt er diese Schaltzentrale, ist er sofort umringt von Menschen mit Problemen: Startaufstellungen, Teamzusammenstellungen, Reglementierungen, es gibt viel zu klären – und von Borstel hat für alle ein Ohr.

Der nationale Koordinator für Leichtathletik ist Trainer im Behindertensport, seit er 17 Jahre alt ist. „Ich habe einen Bruder mit Down-Syndrom, der manchmal mit mir trainiert hat“, erzählt er. Als Knieprobleme seine eigenen sportlichen Ambitionen zunichte machten, suchte er nach einer neuen Aufgabe. „Ich habe sehr früh den Trainerschein gemacht, weil ich bei meinem Bruder gesehen habe: Die brauchen ein vernünftiges Training.“

Es bleibt eng bis zum Schluss. Ihre Zeit – egal. Darum geht es nur am Rande

Die Special Olympics kleckern nicht: HDI-Arena, Stadionbad, Sportpark, Maschsee, fast 2.300 freiwillige Helfer, knapp 1.800 Quadratmeter Containerfläche, rund 30 Kilometer Stromkabel. „Es geht um die Teilhabe am Leben“, sagt von Borstel. Für seine Arbeit im Behindertensport wird der 44-Jährige von Borstel nicht bezahlt. Hauptberuflich arbeitet er in einer Sonderschule. „Sportler, die trainieren, wollen sich auch messen. Wenn sie Erfolg haben, merken sie: Training bringt was.“ Wenn sie dann nach Hause kämen, bekämen sie Anerkennung, seien stolz auf ihre Leistungen. Ein großer Schritt auch für die Angehörigen: Wenn das Kind mit Handicap zum ersten Mal alleine wegfährt und mit einer Erfolgsgeschichten zurückkehrt, dann merken viele Eltern: Der kann das. Dann lernen auch sie selbst vielleicht, dem Kind mehr Selbstständigkeit zuzutrauen.

Seit 25 Jahren gibt es die Special Olympics Deutschland, in 170 Ländern existieren vergleichbare Organisationen, offiziell anerkannt vom Internationalen Olympischen Komitee. Schirmherrin in Deutschland ist Daniela Schadt, Lebensgefährtin von Bundespräsident Joachim Gauck. „Special Olympics Hannover 2016 hat viele Menschen angezogen und begeistert“, sagte ein beeindruckter Oberbürgermsiter Stefan Schostok bei der Abschlussveranstaltung. Er sprach von einem „erfolgreichen Praxistest“ für die Landeshauptstadt, „sowohl als Sportstadt als auch auf dem Weg zur inklusiven Stadt“. Alles in allem hat die Veranstaltung rund 14.000 Gäste nach Hannover gelockt. Etwa 25.000 Zuschauer kamen an die Austragungsorte, um die Athleten anzufeuern.

Mit dem Anfeuern kennt sich Agnes Wessalowski aus: Sie ist Dauerkartenbesitzerin beim HSV, fährt zu jedem Heimspiel, zusammen mit anderen Sportlern aus ihrem Verein, dem SV Nettelnburg-Allermöhe, mit Björn, ihrem Trainer – „und mein Papa kommt manchmal auch mit“. Und sollte der HSV mal absteigen, „dann gibt es eine Katastrophe“.

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