Alt-Hippies auf Ibiza: In die Jahre gekommen

Die Alt-Hippies der Baleareninsel gehören längst zum Tourismus-Marketing. Vielen macht die Altersvorsorge zu schaffen.

Alter Mann mit Lederarbeiten

Am Sonntag beim Hippie-Markt auf Ibiza Foto: Gitti Müller

In den sechziger Jahren, lange bevor Ibiza eine Partyinsel war, staunten die Bauern nicht schlecht: Da kamen junge Menschen mit Flatterkleidern, Federschmuck und Blüten im Haar, im Arm eine Gitarre, in der Hand einen Joint, auf den Lippen ein Lied aus der Flower-Power-Bewegung. Sie kamen und blieben. Manche bis heute. Sie sind älter geworden, das Leben exklusiver, die Mieten absurd hoch. Weg will trotzdem keiner. Aber manche müssen.

In einer Gasse der Altstadt von Ibiza, unweit der Plaza Vara del Rey, liegt die Bar San Juan. Eines der wenigen Lokale, die auch im Winter geöffnet haben. Hier gibt es oft nur ein einziges Tagesgericht. Frisch und preiswert. Wenn es aus ist, ist es eben aus.

Juan, Ende siebzig, ist der Eigentümer. Schwarze Fünfziger-Jahre-Brille, mandelförmige Augen mit Lachfalten hinter dicken Gläsern, graues, kurzgeschorenes Haar. Der Chef, also er, bestimmt, wer wo sitzt. Dieses Konzept habe sein Vater Anfang der sechziger Jahre eingeführt, als Blumenkinder, Hippies und Aussteiger aus aller Welt die Insel fluteten.

Die Ibicencos nannten sie schlicht die „Langhaarigen“ und fanden sie ein bisschen merkwürdig, diese jungen Menschen mit flatternden Kleidern und Blumenkränzen im Haar, die einmal im Monat in den Postfächern der Dorfkneipen ihre deutschen, französischen, kanadischen oder amerikanischen Schecks von zu Hause abholten. Ansonsten lebten sie irgendwo auf dem Land in Kommunen und knüpften Armbändchen.

Juans Vater wollte die bodenständigen Bauern der Insel und die Mantra singenden Hippies an einen Tisch bringen, damit sie sich kennen lernten. „Auf der Straße hätten sie einander damals nicht mal gegrüßt, aber hier, bei einem guten Essen und einer Flasche Wein, wurden Freundschaften und Mietverhältnisse geschlossen“, erzählt Juan. Auch wenn die Bauern nicht ganz nachvollziehen konnten, warum diese sonderbaren Fremden unbedingt in einem heruntergekommenen Steinhaus ohne fließend Wasser und Strom irgendwo im Nirgendwo wohnen wollten.

Mantras mit Nina Hagen

Die Mietvereinbarungen von damals, oft nur mündlich getroffen, sind manchmal noch heute gültig. Und die Regeln im San Juan auch. Hier sitzt ein Geschäftsmann aus Bilbao zusammen mit einem Künstler aus Kolumbien und einem Obstverkäufer aus Ibiza. Dort eine Yogalehrerin aus London mit einer Schmuckverkäuferin aus Barcelona und einem Fischhändler aus Ibiza. Auf den Tisch kommt völlig ungefragt stets eine Flasche Rotwein – und eine Menge spannender Geschichten von Hippies und Einwanderern.

Mann mit Guitarre

Jon Michelle mit seiner Lieblingsgitarre Foto: Gitti Müller

Jon Michelle, 65 Jahre alt, hohe Stirn und langes, dunkles Haar, ist als Kind Schweitzer Diplomaten in Afrika aufgewachsen und lebt seit den 80er Jahren in Ibiza. Mit Nina Hagen hat er Mantras gesungen, und auf dem Hippiemarkt organisiert er zusammen mit Freunden jeden Mittwochabend das musikalische Programm „Namaste“. Wenn die ITB in Berlin tagt, vertritt er für Ibiza das, was den Offiziellen lange eher peinlich war, das „Hippietum“. Das sei inzwischen ein Alleinstellungsmerkmal der Insel. Man habe verstanden dass es eben nicht nur um Feten, Drogen und Sex gehe. Es gebe viele Künstler und Kunsthandwerker unter den Hippies. Hippiesein ist nun okay.

Jon Michelle weiß wohl, dass es sich um eine Marketingstrategie der Tourismusbehörde handelt. Er sei wirklich ein Hippie und stehe dazu. Was er darunter verstehe? „John Lennon ist Hippie. Hippie ist, den Vietnamkrieg zu stoppen, Hippie ist gewaltfrei leben. John Lennon sagt genau das in seinem Song ‚Imagine‘. Stell dir vor: keine Religion, keinen Hunger. Das ist für mich Hippie. Wir sind nicht Hippies geworden, um uns zuzudröhnen. Für mich ist Hippie eine Haltung. Und die lebe ich noch immer.“

Jon lebt in San Juan, im Norden der Insel, mitten im Naturschutzgebiet Es Amunts. Es ist eine Region, die durch Ursprünglichkeit besticht und auch heute noch fernab der Partymeile alles anzieht, was im Einklang mit der Natur sein will: alt gewordene und jung gebliebene Hippies, selbst ernannte und studierte Heiler und Schamanen, Osteopathen und Reikimeister, Masseure, Yogalehrer, Gurus, Tänzer und Musiker, Veganer und Vegetarier. Sie alle lieben Es Amunts, diese Landschaft mit knorrigen Olivenbäumen, wilden Johannisbrotbäumen, Feigenbäumen und ausladenden Schirmpinien. Sie lieben die rote Erde und die felsigen Hügel, den gelben Ginster, die prallen Orangen- und Zitronenbäume, die Agaven und den Geruch von Jasmin, Lavendel, Thymian und wildem Rosmarin.

Neue Hochzeitsrituale

35 Prozent der Bevölkerung in den sieben Orten der Gemeinde San Juan de Labritja sind Ausländer, die dauerhaft hier leben. Zahlenmäßig stehen an erster Stelle Deutsche, dann folgen Engländer, Italiener, Franzosen und andere. Viele sind zwischen den Sechzigern und Achtzigern gekommen. Wie Jon Michelle.

Anders als viele seiner Hippiekollegen wohnt er nicht in einer Finca, sondern in einer Wohnung im Dorf. Bunte Decken, indische Tücher, kleine Buddhafiguren und Wandbehänge erinnern an alte WG-Zeiten. Jons Arbeitszimmer strotzt vor Musik: Trommeln, Gitarren, zwölf an der Zahl, Flöten, Pianos und allerlei Rhythmusinstrumente stehen oder liegen herum. Die große Terrasse mit Blick auf das freie Land ist so bunt wie der Rest der Wohnung: die Wände in warmen Rot gestrichen, hellblaue Fensterläden und ein schattenspendendes Strohdach, Blumenkübel und Kräuter, ein großer Tisch mit vier Stühlen.

Ganz klar: Hier ist die Terrasse Lebensmittelpunkt. Drei Kinder hat Jon und einen Enkel. Seine jüngste Tochter ist elf Jahre alt. Sie lebt abwechselnd bei ihm und der Mutter. Leicht sei es nicht, die Lebenshaltungskosten zu decken, aber irgendwas gehe immer, sagt er. Ein zweites Standbein habe er sich aufgebaut, Hochzeitsrituale für Menschen, die sich nicht kirchlich trauen lassen wollen, aber doch etwas Rituelles erleben möchten. „Im Fokus der Zeremonie steht die Einsicht, dass Liebe ein Geschenk ist. Wir feiern die Liebe und ehren die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde. Und dann eben das höchste Gut: die Liebe.“

Aber von Liebe und den vier Elementen kann man nun mal nicht leben, auch nicht auf Ibiza. Die internationale Hippie-Community braucht schon viel Fantasie und Durchhaltevermögen, um hier bestehen zu können. Im Sommer, wenn die Touristen kommen, vermieten sie Zimmer in ihren Häusern. Dann ist Schluss mit Privatsphäre, denn meistens sind die kleinen Fincas nur mit einer Küche und einem Bad ausgerichtet. Wenn es gut läuft und alle Zimmer belegt sind, ziehen die Vermieter selbst mitunter in einen fensterlosen Massage- oder Abstellraum.

Ayahuaska-Zeremonien

Andere überlassen ihr Landhaus komplett und ziehen vorübergehend zu Freunden oder in ein Tipi im Pinienwald. Und dann gibt es ja noch all die Nebenbeschäftigungen, mit denen man Geld verdienen kann: Yoga und Tanz unterrichten, Ayurveda- und Thaimassagen, Shiatsu, Reiki und Watsu, Mantra singen und Meditation, Coaching und Selbstfindungsseminare.

Noëlle verdient ihren Lebensunterhalt mit Kartenlesen und Astrologie. Sie kommt aus der französischen Schweiz und lebt seit 42 Jahren auf der Insel, immer noch in der gleichen Finca von damals. Aber inzwischen hat ihr Haus fließendes Wasser, das dank der Solarzellen sogar warm aus dem Hahn kommt. Den Karten sei Dank.

Andere führen Ayahuaska-Zeremonien durch, bei denen die Teilnehmer den Sud einer halluzinogenen Liane aus dem Amazonas einnehmen und unter Aufsicht eines Schamanen oder einer Schamanin erst kotzen und dann sich selbst finden. Drei Tage lang.

Jon, der mit den Hochzeitszeremonien, sieht sich selbst nicht als Schamane oder gar Priester. Vielmehr will er einen schönen Rahmen für ein Lebens- und Liebesversprechen bieten. Die Feiern finden am Strand, auf einem Felsen oder auf einer Bergspitze statt. Jon glaubt, dass die Insel unter dem Einfluss der Fruchtbarkeitsgöttin Tannit steht. Auf Ibiza wurden mehrere Kultstätten ausgegraben. Eine der Bekanntesten ist die Höhle Es Culleram bei Sant Vicent im Norden der Insel. Göttin Tannit bringe etwas Feminines und Friedvolles auf die Insel. Das sei es, was viele Leute, insbesondere Künstler und spirituelle Menschen, anziehe.

Und jetzt die Egotripleute

„Auf Ibiza ist es uncool, aggressiv zu sein, Testosteron zu zeigen. Wenn jemand aggressiv ist, wird er das Mädchen nicht bekommen, dem er imponieren will, die anderen werden ihm die kalte Schulter zeigen wenn er auf dem Egotrip ist.“ Aber es gibt sie doch, die Egotripleute. Und es ist ihnen herzlich egal, wenn Hippies, Esoteriker und Alternative ihnen die kalte Schulter zeigen.

Davon kann Birgit aus Berlin ein Liedchen singen. Sie kam vor fast 30 Jahren mit ihren zwei kleinen Kindern und ohne einen Pfennig Geld. Damals habe man sich gegenseitig geholfen. In den ersten Jahren gab es viel Unterstützung durch Ibicencos und andere Zugereiste. Als der Euro kam, erzählt sie, sei das Leben schwerer geworden. Der erste Schwung Freunde sei damals aufgebrochen und zurück in die Heimat gegangen. Mit dem Euro kam die Ordnung nach Ibiza. „Plötzlich mussten sie alle Papiere haben und Steuern bezahlen. Da sind sie haufenweise weg, zurück nach Deutschland und haben da einen auf Hartz IV gemacht.“

Birgit hat durchgehalten, Gelegenheitsjobs gemacht, die Häuser der Reichen geputzt. Denn davon gab es mit der Zeit immer mehr. Promis, Immobilienmakler, Drogendealer und gewitzte Geschäftsleute machten aus der ehemaligen Hippieinsel eine Partyhochburg, besonders im Süden. „Diese Neuen waren im Umgang mit ihren Geschäftspartnern nicht gerade zimperlich“, erzählt Birgit. Wie oft hat sie ihre Häuser geputzt und den Lohn nicht bekommen! Erst wurde die Bezahlung hinausgezögert. „Am Ende hieß es dann: Nö, das bezahlen wir nicht. Ihr arbeitet ja illegal, geht doch zur Polizei und beschwert euch.“ Sie wisse jetzt, sagt Birgit, wie sich Menschen fühlen müssen, die ohne Papiere in Deutschland leben.

Bis 2015 lebte die Deutsche und ihr Schweitzer Lebensgefährte Marcel in der kleinen Finca, die sie in den Siebzigern für wenig Geld mieteten und liebevoll restaurierten. Abgeschieden in den Bergen des Nordens, nur über eine Piste zu erreichen, hatten sie sich dort ein bescheidenes, aber gemütliches Zuhause zwischen Zitronenbäumen geschaffen, das sie nie mehr verlassen wollten. Aber Birgit wollte nicht mehr putzen, sich nicht mehr über den Tisch ziehen lassen mit ihren 65 Jahren. Und Marcel hatte das Gärtnern für betuchte Ausgefuchste auch satt.

Neue Heimat Thailand

Genug ist genug. Mit ihren 167 Euro Rente, und Marcels Schweitzer Mindestrente von umgerechnet rund 1.000 Euro hätten die beiden auf Ibiza noch lange putzen und gärtnern müssen. Deshalb sind sie jetzt ein letztes Mal ausgewandert: nach Thailand. Für kleines Geld haben sie für die Dauer von 30 Jahren ein Grundstück im Norden Thailands gepachtet. Nun sind sie dabei, es zu roden, um dort ein Häuschen zu bauen. Gleich nebenan hat Hella, eine Deutsche aus Ibiza, ihr Haus schon fertig.

Hella lebt zwar in den Sommermonaten noch auf Ibiza, wo sie Yoga unterrichtet, ist aber mit einem Bein in Thailand, wo sie die Wintermonate verbringt. In Thailand, sagen die Auswanderer, können sie mit ihren Minirenten ein prima Leben führen. Und die Gegend sei bei Hippies sehr beliebt. Ein bisschen erinnere der Ort an das Ibiza der sechziger Jahre.

Nicht wenige müssen Ibiza verlassen, weil sie die hohen Lebenshaltungskosten jetzt im Alter nicht mehr stemmen können. Vorbei die Zeiten, wo eine kleine Steinfinca per Handschlag und Barzahlung zu haben war. Die explodierenden Immobilienpreise haben die Mieten derart in die Höhe getrieben, dass viele, auch Einheimische, nicht mehr wissen, wo sie in den Sommermonaten wohnen sollen. Kellner, Köche, Verkäufer und andere, die vom Tourismus leben, teilen sich Wohnungen zu horrenden Preisen. Ein Zimmer mit gemeinsamem Bad und Küche für 1.000 Euro monatliche Miete oder 500 Euro für einen Schlafplatz auf einem Balkon: Der Mietwucher in der Hochsaison hat schon Menschen dazu gebracht, ihren Job zu kündigen und woanders ihr Glück zu versuchen.

Über 900 Wohnungen sind vom normalen Wohnungsmarkt verschwunden und tauchen bei Airbnb, Tripadvisor oder Ownersdirect in den Sommermonaten wieder auf. Schwarz, steuerfrei und ohne Lizenzen werden dann absurd hohe Kurzzeitmieten erzielt. Die Inselregierung arbeitet fieberhaft an Konzepten, wie sie Spekulationen verhindern und Ganzjahresmieten fördern kann. Bisher mit wenig Erfolg.

Die Preisschraube trifft auch jene, die damals als Hippies kamen, sofern sie kein Eigentum erworben haben oder sich auf alte, gültige Mietverträge berufen können. Virginia Escandell, Sozialarbeiterin aus San Juan, kann aus dem Stand sechs Fälle von Ausländern aufzählen, die so weit unterhalb der Armutsgrenze leben, dass die spanischen Behörden eingreifen mussten. Oft hätten sie nicht einmal eine Krankenversicherung. Im Alter brauchen sie aber immer öfter den Arzt.

Horror staatliches Altenheim

Michael ist 70 Jahre alt, lebt seit fast 30 Jahren auf Ibiza. Als er noch bei Kräften war, stellte sein Einmannunternehmen Lehmsteine her. Jetzt arbeitet er nicht mehr, lebt in einer Garage ohne Fenster, und seine Schwester in Deutschland schickt ihm monatlich 200 Euro. Davon könnte er sich an den hippen Stränden Ibizas gerade Mal einen Tag lang eine Strandbett leisten. Aber zurück will er nicht.

Horst aus Hannover ist Anfang sechzig, bezieht weder Rente noch ist er krankenversichert. Die Gemeinde hatte ihm ein Flugticket zurück nach Deutschland spendiert, damit er sich von seiner Familie helfen lässt. Aber Horst wollte nicht. Er soll das Geld ausgegeben haben und seither in einem Plastikzelt unter den Pinien unweit des Strandes von Benirràs leben. Ab und zu sieht man ihn mit seinem alten, verrosteten Fahrrad die Serpentinenstraße hochkeuchen oder auf der Terrasse einer Dorfkneipe einen spendierten Cafe schlürfen. Seine Mithippies geben ein Bier oder eine Suppe aus und stecken ihm gelegentlich etwas Geld zu.

Neulich ist Horst mit dem Rad gestürzt, schlimm sei das gewesen, sagen seine Freunde. Horst musste operiert werden und hat jetzt eine Metallplatte im Schädel. Niemand weiß, wer das bezahlt hat. Virginia, die Sozialarbeiterin, zuckt mit den Schultern und sagt, Notfälle werden auch ohne Versicherung versorgt. Aber sollte jemand zum Pflegefall werden und mittellos sein, bleibe nur das staatliche Altenheim, sagt sie. „Und da will niemand freiwillig hin, schon gar nicht ein Hippie.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.