Sexueller Missbrauch: Wenn das Opfer vergeblich anruft

Eine Million Kinder und Jugendliche sind von sexueller Gewalt betroffen. Aber es gibt zu wenig Beratungsstellen. Obwohl die Sensibilität gewachsen ist.

Vor Gericht landen noch immer zu wenige Fälle. Foto: dpa

BERLIN taz | Eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland sind der Weltgesundheitsorganisation zufolge von sexueller Gewalt betroffen – zu Hause, in der Schule, in der Kita, im Sportverein, in der Kirche, im Internat. „Die Dimension ist weiterhin riesig“, sagte der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig am Dienstag in Berlin im Vorfeld einer Fachtagung über Kindesmissbrauch.

2014 wurden bei der Polizei bundesweit 12.134 Fälle angezeigt. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, mutmaßte Rörig. Unabhängig davon seien die Sensibilität und das öffentliche Bewusstsein gegenüber sexualisierter Gewalt an Kindern gestiegen. Das allerdings führt zu einer Diskrepanz in der praktischen Arbeit mit den Opfern: Ihnen kann häufig nicht geholfen werden.

Bundesweit gibt es 525 Missbrauchsberatungsstellen, sagte Barbara Kavemann vom Sozialwissenschaftlichen Frauenforschungsinstitut Freiburg (SoFFI). Seit eineinhalb Jahren untersucht die Soziologin und Gewaltexpertin die Situation von Beratungsstellen. Ihr Fazit: Schon 2010, vor dem Bekanntwerden der massiven Missbrauchsfälle in katholischen und anderen Einrichtungen, in denen Erwachsene mit Kindern zu tun haben, waren die Fachstellen mangelhaft ausgestattet. Jetzt sei der Bedarf nach Beratung und Betreuung von Opern gestiegen, aber die finanzielle und personelle Ausstattung der Anlaufstellen für Betroffene habe sich nicht verändert.

Oft seien nur „eine Handvoll Leute“ in den Einrichtungen beschäftigt, in ländlichen Regionen gäbe es häufig keine oder nur vereinzelt Beratungsstellen, es fehle an Einrichtungen für Jungen und Männern sowie für Behinderte.

Kreative Ideen für den finanziellen Notfall

Mit „kreativen Ideen“ versuchten BeraterInnen beispielsweise in armen Bundesländern wie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auch jene Menschen anzusprechen, die gewöhnlich nicht den Weg in die Beratungsstelle finden. So würden sie mobile und Außensprechstunden anbieten. Problematisch sei dann allerdings, so Kavemann, dass „niemand im Büro ist, wenn die Beraterin rausfährt“.

Ähnlich sei das mit den Sprechstunden: Ist eine Beraterin im Gespräch mit einer oder einem Betroffenen, kann sie nicht ans Telefon gehen. Berät sie gerade telefonisch und ist allein im Büro, kann sie nicht reagieren, wenn jemand anderes anruft. Dann springt nur der Anrufbeantworter an. „Wer zwei oder drei Mal umsonst anruft, meldet sich nicht wieder“, sagt Kavemann. Sie fordert eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung von Missbrauchsberatungsstellen.

Langjährige Prävention beugt Missbrauch vor

Warum bekommen die Einrichtungen nicht mehr Geld, wenn seit 2010 das Thema im Fokus der Öffentlichkeit und der Politik ist? Wenn der Runde Tisch Sexueller Missbrauch, der jahrelang tagte, mehr Prävention und Hilfe für die Opfer fordert? Wenn internationale Studien belegen, dass langjährige Vorsorge die Zahl an Missbrauchsfällen verringern kann?

Einen Grund dafür sieht Kavemann in den klammen Kassen der Kommunen und Länder. Und: BeraterInnen seien häufig EinzelkämpferInnen. „Sie streiken nicht so wie beispielsweise das Krankenhauspersonal“, sagte Kavemann: „Weil sie in dieser Zeit nämlich die Betroffenen im Stich lassen würden.“ Die Finanzierung von Beratungsstellen und Präventionsmaßnahmen sei „eine Frage der Prioritätensetzung“, unterstrich Rörig.

Der Missbrauchsbeauftragte und Familienministerin Manuela Schwesig (SPD), an deren Haus Rörigs Stelle angebunden ist, wollen eine Beratungsanspruch für Kinder und Jugendliche im Gesetz verankern.

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