Nachts im Callcenter: Out of the dark

Wenn die Amerikaner aufstehen, geht man auf den Philippinen schlafen. Manche aber sitzen im Callcenter und sagen: „Welcome“.

Ein Headset liegt auf einer Computertastatur.

Mit bis zu 200 Kunden spricht Angie in einer Nacht. Ein Telefonat soll maximal 198 Sekunden dauern. Im Monat verdient sie damit 370 Euro. Foto: dpa

MANILA taz | Angie Rodriguez bereitet sich auf ihre Arbeit vor. Sie legt ein paar Halsbonbons neben die Tastatur, prüft das Headset und holt sich noch schnell einen Kaffee. Hier ist es spät am Abend, aber an der US-Ostküste beginnt ein neuer Tag. Und das ist das Entscheidende.

Um 21.45 Uhr beginnt ihre Schicht. Sie klickt auf den grünen Rufannahmeknopf. In dem Moment wird sie eine von vielen. Sie sagt genau die gleichen Dinge, die um sie herum gesagt werden, nur der Name der Mietwagenfirma unterscheidet sich. „Welcome“, sagt sie. Willkommen bei Dollar. Wie kann ich Ihnen helfen?

Angie Rodriguez ist 30 Jahre alt, eine schmale Frau mit zurückgebundenen Haaren, sie lacht viel, ein fröhliches Lachen, das manchmal aber auch Unsicherheit überspielt. Sie sitzt in einem Großraumbüro im 20. Stock eines Büroturms, gelegen in der Bonifacio Global City im Südosten Manilas, der Hauptstadt der Philippinen. In ihrer offenen Kabine, etwa ein Quadratmeter groß: ein Computer, ein Monitor, Tastatur und Maus und ein Headset. Außer der Trinkflasche und einem Kaffeebecher, den sie mit ins Büro nimmt, stehen hier keine persönlichen Gegenstände.

Der Grund, warum sie hier arbeitet, ist, wenn man so will, die Globalisierung. Zahlreiche US-Firmen lagern ihre Call Center nach Asien aus, der Kosten wegen. Angie Rodriguez etwa verdient 370 Euro im Monat. Zunächst befanden sich die meisten Call Center in Indien. Seit einiger Zeit aber sind die Philippinen weltweit die Nummer eins. Etwa eine Million Menschen arbeiten in der Branche.

Die Philippinen sind hervorragend geeignet, Telefondienstleistungen für US-Firmen zu übernehmen, ein regelrechtes Outsourcing-Paradies, wie manche sagen. Denn es gibt viele motivierte junge Filipinos, die vergleichsweise gut ausgebildet sind. Sie können sich hervorragend auf Englisch ausdrücken, es ist – neben Filipino – die Nationalsprache und dem Englisch der USA ziemlich nahe, Jahrzehnte unter US-Verwaltung haben Spuren hinterlassen. Über die Mitarbeiter in Indien haben sich manche beschwert: diese Aussprache.

Anrufe: 198 Sekunden

Für Angie Rodriguez und ihre Kollegen wird also die Nacht zum Tag. Sie arbeitet in der Abteilung, in der Mietwagenverträge verlängert werden. „Geben Sie mir bitte Ihre Mietvertragsnummer. Wie ist Ihr Nachname?“ Sie tippt die Nummer ein. Enter. „Sie möchten den Wagen zwei Tage später zurückgeben? An der gleichen Station?“ Zwei Klicks und schon beginnt das zweite Gespräch.

Angie Rodriguez jongliert zwischen zehn Fenstern auf ihrem Desktop. Dem Mitwagenreservierungssystem, einem Dokument, in dem die Details der Anrufer festgehalten werden, dem Telefonprogramm und so weiter. Manchmal loggt sich das Reservierungsprogramm automatisch aus. Dann muss sie blitzschnell das Passwort neu in die Eingabemaske eingeben. Sonst verliert sie wertvolle Zeit am Telefon.

Ein Telefonat soll maximal 198 Sekunden dauern. Dauert es länger, muss die Zeit in den Folgegesprächen wieder gut gemacht werden. Mit bis zu 200 Kunden spricht Angie Rodriguez in einer Nacht. Während sie arbeitet, beobachtet ihr Freund sie über die Kameras, die im gesamten Büro angebracht sind. Er arbeitet auch in der Firma – er leitet das Gebäudemanagement – scherzhaft nennt sie ihn einen „Semi-Stalker-Typ“.

Nachts sind wir freier - und ehrlicher. Deshalb widmet die taz.am wochenende ihre Weihnachtsausgabe vom 24./25./26./27. Dezember 2015 der Dunkelheit und erzählt gute Nachtgeschichten. Wir treffen Sebastian Schipper, der den Nachtfilm des Jahres gedreht hat und sich wie ein Staubsaugervertreter fühlt. Wir sitzen nachts in einem Callcenter auf den Philippinen, wo Anrufe aus den USA ankommen. Und: Unsere Autorin schreibt über die schlimmste Nacht ihres Lebens - die Geburt ihrer Tochter. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Sie kam schon am Nachmittag in die Firma. Wenn sie abends fahren würde, bräuchte sie ein bis zwei Stunden, am Nachmittag nur eine halbe, denn dann ist weniger Verkehr und sie kann bei ihrem Freund auf dem Motorroller mitfahren. Für ein paar Stunden schlief sie dann in einem kleinen, fensterlosen Raum mit drei Hochbetten. Die Matratzen sind dünn, die Erholung nur so mittel, aber besser als nichts.

Angie Rodriguez braucht Energie, denn manchmal nerven sie die Anrufer, so wie jetzt diese Frau in den USA. Sie schaltet das Mikro ihres Headsets aus, klappt es nach oben und fragt: „Ernsthaft?“ Die Frau hat eine falsche Mietvertragsnummer angegeben. Auch die Abholstation, die sie genannt hat, ist nicht korrekt. Das System findet keinen Vorgang. Für Angie Rodriguez sind solche Anrufer zeitraubend und ärgerlich. „Ihr Vertrag ist nicht im System hinterlegt“, antwortet sie der Frau. „Bitte wenden Sie sich an die Mietwagenstation, bei der Sie den Wagen erhalten haben.“

„Das Nervigste ist, wenn sie die Vertragsdetails nicht gelesen haben“, sagt sie. Manche Kunden reagieren gereizt, wenn sie auf die Bearbeitungspauschale für Mietverlängerungen hingewiesen werden, dabei steht das in den Mietbedingungen. Wenn die Unternehmen in den USA die Verträge ändern, bekommen die Callcenter-Mitarbeiter eine halbstündige Schulung, um auf dem neuesten Stand zu sein.

Entspannung: 45 Sekunden

Mehr als 13.000 Kilometer sind es von Manila nach New York. Kulturell sind die Philippinen zwar nicht so weit weg von den USA, wie man denken könnte. Aber natürlich gibt es Unterschiede und dadurch Schwierigkeiten. Es sei mitunter kompliziert, regionale Dialekte zu verstehen, gibt Angie Rodriguez zu. „Ab und an werden die Kunden auch ausfallend und beleidigend, wenn es nicht so läuft, wie sie möchten.“ Das sei aber nur die ersten zwei Monate anstrengend gewesen. Inzwischen verweist sie die Anrufer einfach an einen Vorgesetzten.

Wenn sie sich mit den Kunden unterhält, kommt das Gespräch manchmal auf ihre Heimat. Die Leute wollen dann etwa wissen, wie es in Manila so ist, erzählt sie. Sie und ihre Kollegen dürfen darüber sprechen, dass sie sich in einem anderen Teil der Welt befinden. Die meisten Auftraggeber in den USA gingen mittlerweile ganz offen damit um, dass ihre Callcenter auf die Philippinen ausgelagert wurden, sagt Angie Rodriguez‘ Chef Andy Sarakines. Manche Banken allerdings hielten das nach wie vor lieber geheim, weil es vielleicht nicht alle Kunden gut finden.

Während jeder Schicht macht ein Team eines Gesundheitsunternehmens die Runde durch das Großraumbüro, LiveWell heißt es. Es ist 22.10 Uhr und die LiveWell-Mitarbeiter sind mit ihrem Gymnastikball in Angie Rodriguez‘ Reihe angekommen. 45 Sekunden wird jeder Mitarbeiter auf den Ball gesetzt. Sind die 45 Sekunden vorbei, geht es zurück in gebückter Haltung auf den Bürostuhl vor dem Computer. Die LiveWell-Mitarbeiter tippen etwas in einen mitgebrachten Laptop.

Geschäftsführer Sarakines sagt, er sei um das Wohl seiner Mitarbeiter bemüht. „Wir sind sehr darauf bedacht, Gesundheitsverständnis zu fördern. Einen Raum haben wir in ein Fitnessstudio verwandelt.“ Dafür müssen die Mitarbeiter allerdings bezahlen.

Schlaf: 3 bis 5 Stunden

Wenn Angie Rodriguez Sport macht, dann ist es Tanzen. Vor Kurzem hat sie mit einigen Kolleginnen und Kollegen auf der Weihnachtsfeier getanzt. An den Tagen, an denen sie geprobt haben, hat sie noch weniger geschlafen als sonst. Selbst an normalen Tagen sind es nicht mehr als drei bis fünf Stunden.

Um 24 Uhr hat ihr Freund Feierabend – und sie Pause. Die beiden fahren mit dem Fahrstuhl nach unten. Am Fuße des Büroturms warten McDonald’s,Burger King, Kentucky Fried Chicken und lokale Fastfoodketten auf die nächtliche Kundschaft. Jeder Callcenterjob auf den Philippinen schaffe drei bis vier weitere Arbeitsplätze, sagt ihr Chef, den sie nur „großer Bruder“ nennt.

Nach dem Essen läuft Angie Rodriguez zurück in den Büroturm. Im Eingangsbereich hält sie ihre Mitarbeiterkarte an das Lesegerät, die Schranke geht auf, und sie fährt mit dem Aufzug nach oben. Im Büro läuft sie an Kollegen vorbei, die auf dem Sofa im Vorraum eingeschlafen sind, Kissen und Jacken über dem Kopf, zum Schutz vor dem grellen Licht der Neonröhren.

1 Uhr, wieder „Willkommen bei Dollar. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Fast mechanisch klingt Angie Rodriguez. Und zusehend abgekämpft. Dabei ist die Schicht noch lange nicht zu Ende, bis 6.45 Uhr geht sie.

Schon bei Schichtbeginn wirkte sie etwas müde. Fragt man sie, wie die Nachtarbeit für sie ist, beharrt sie darauf: „Ich arbeite gerne nachts.“ An den neuen Rhythmus habe sie sich gewöhnt. Vor zwei Jahren hatte sie eine Fehlgeburt, nach nur einem Monat Schwangerschaft. Schuld war der Stress, so sagte es ihr Arzt. Davon erzählt sie erstaunlich gelassen.

Angie Rodriguez hat einmal Krankenschwester gelernt, in dem Beruf hat sie weniger verdient als jetzt. Ihr Traum war immer, in ein paar Jahren mit ihrer Mutter oder ihrer Schwester in die USA zu ziehen. Krankenschwestern werden da gebraucht. Vor einer Weile aber hat sie ihre Meinung geändert. Jetzt hat sie ja ihren Freund und außerdem: Durch ihre Arbeit, durch die Zeitverschiebung und die Gespräche mit den Kunden, sei ihr Leben doch ohnehin so, als lebe sie dort.

Es gibt wenige Momente, in denen sie ihren Job nicht so toll findet. Weihnachten gehört dazu. Denn das ist auch auf den Philippinen ein wichtiges Fest, die meisten Menschen sind katholisch. Sie wird auch in diesem Jahr wieder nicht mit ihrer Familie feiern können, sie arbeitet in den Nächten des 24. und 25. Dezember. Wenn die Menschen in den USA frei haben, dann haben sie im Callcenter in Manila viel zu tun.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.