Lagebericht vom Stade de France: „Die Stimmung ist ganz anders“

Die Bewohner von Saint-Denis, wo sich drei Attentäter in die Luft sprengten, sind voller Trauer und Wut – und wollen eins: Solidarität zeigen.

Polizisten hinter einer Absperrung am Stade de France

Polizisten haben das Stade de France abgesperrt. Foto: dpa

SAINT-DENIS taz | Am Stade de France in dem Pariser Vorort Saint-Denis hängen noch die deutschen Flaggen, kleben noch die Plakate der deutschen Nationalspieler. Überbleibsel eines Abends, der nicht mit einer freundschaftlichen Begegnung, sondern mit viel Blut, Hass und Angst endete.

Drei Attentäter hatten sich unmittelbar neben dem Stadion in die Luft gesprengt und dabei einen Menschen getötet und 50 verletzt. Die Straße, in der zwei der Anschläge verübt wurden, ist einen Tag nach dem Anschlag noch gesperrt. Ein Kamerateam darf hinter der Absperrung filmen. Einige Menschen beobachten die Szenerie, einige geben sogar Interviews.

Eine junge Frau in weiter Jeans und blauem Stoffmantel läuft zielstrebig auf das Gitter zu. Sie trägt eine leuchtend pinke Mütze, die ihre schwarze Locken geradeso zusammenhält, sie hat eine weiße Rose in der Hand. „Ein Symbol für die Schönheit des Lebens“, sagt sie und lächelt. „Ich bin in Saint-Denis geboren und aufgewachsen. Das so etwas hier passiert, das hat mich besonders getroffen.“

Samias Vater kommt aus Algerien, ihre Mutter hat portugiesische Wurzeln. Ein Jahr hat die 37-Jährige an der Universität Paris 8 in Saint-Denis Psychologie studiert, heute arbeitet sie als Behindertenpflegerin. Sie ist hier, um zu zeigen, dass sie keine Angst hat vor den Terroristen.

Doch solange die polizeilichen Ermittlungen laufen, erklärt ihr der Polizist hinter der Absperrung, darf sie nicht auf das Gelände, muss die Rose wieder mit nach Hause nehmen.

„Ich will mich nicht einsperren“

Samia wirkt geknickt: „Die Stimmung in Saint-Denis ist auf einmal ganz anders. Das merkt man sofort, wenn man aus dem Haus geht. Heute Morgen wollte ich in die Basilika gehen und beten, aber die war geschlossen. Ich will mich nicht einsperren und Angst haben. Ich möchte etwas tun und meine Wut zeigen.“

Ob sie sich in Saint-Denis sicher fühlt? „Das, was passiert ist, kann überall passieren. Es wurde ja nicht nur Saint-Denis angegriffen. Wir sind alle betroffen!“, sagt sie und schüttelt traurig den Kopf.

Trauer, Wut, Gefühle, die derzeit nicht nur Samia in sich trägt. Auch Kahlida, eine kleine Frau, Mitte fünfzig mit halblangen braunen Haaren, stark nachgezogenen Augenbrauen und einem Strauß selbstgepflückter Blumen in der Hand ist zum Stadion gekommen.

Gemeinsam mit ihrem Sohn Raouf, ein hochgewachsener, schlanker junger Mann um die Dreißig in Jogginghosen, Trainingsjacke und Basecap, will sie Solidarität mit den Opfern zeigen. „Wir sind nicht für die Religion hier, wir sind für die Menschen hier! Wir sind Muslime“, erklärt Kahlida „und das sind keine Muslime, die das getan haben.“

„Wir haben alle einen Gott“

Dann auf einmal bricht es laut aus ihr heraus: „Wir haben alle einen Gott und der hat verdammt noch mal gesagt, dass wir uns lieben sollen.“ Raouf nickt. Die beiden wohnen seit 23 Jahren in Saint-Denis. Sie sind aus Algerien geflohen, als dort islamistische Terroristen Anschläge verübt haben.

Dass sie nun in Frankreich noch einmal vor der gleichen Situation stehen, können sie nicht verstehen. Die Anschläge sitzen beiden noch in den Knochen. Sie wohnen nicht weit vom Stadion entfernt und haben die Explosion von ihrer Wohnung aus gehört.

„Es ist einfach unfassbar“, sagt Raouf, wie Menschen früh aufstehen können und wissen, heute Abend werde ich Menschen töten.“ Er ballt die Fäuste und fügt hinzu: „Das wird es garantiert nicht einfacher für alle Muslime machen.“

Dann zeigt er mir ein Bild auf seinem Smartphone. Eine französische Flagge mit dem Symbol der drei großen Weltreligionen: der abendländische Halbmond, das Kreuz Christi und der Davidstern. Sie bilden das Wort „Coexist“. Daran glauben beide. Noch. Kahlida sagt: „Nach den Attentaten von Charlie Hebdo hat es lange gedauert, bis das Vertrauen wieder da war. Diesmal wird es nicht so leicht werden.“

Samia redet mittlerweile mit einem Mann am Eingang des Stadions, er trägt eine orangene Security-Jacke, darunter eine schwarze Arbeitsuniform. Er bietet ihr an, ihre Rose ins Stadion zu legen. Doch Samia winkt dankend ab, sie will wiederkommen.

Flucht durch den Spielertunnel

Mehdi (Name geändert), der mittdreißigjährige Mann in der Security-Jacke, arbeitet im Tunnel, dem Spieleraufgang des Stadions. Freitagnacht wurden der Tunnel und zwei weitere Aufgänge zum ersten Mal genutzt, um 80.000 Menschen aus dem Stadion heraus zu lotsen.

Mehdi spricht sehr schnell und lächelt oft. Er ist dafür verantwortlich, dass die Spieler sicher ins Stadion herein- und herauskommen. Stolz zeigt er mir ein Selfie mit dem französischen Fußballstar Karim Benzema. Halb scherzend sagt er: „Hooligans und Schlägereien, das haben wir hier ständig. Das kennen wir und das hat die Polizei im Griff.“

Dann wird er ernst: „Aber das war was Anderes! Die Polizei wusste gar nicht, wo die Attentäter sind.“ Deshalb wurde das Spiel nach den ersten beiden Explosionen nicht abgebrochen, erklärt er. Die Polizei wollte keine Massenpanik. Einige Besucher verließen wenig später trotzdem vorzeitig das Stadion. Präsident François Hollande wurde kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit evakuiert.

„Wir haben, als die Situation halbwegs klar war, sofort das Stadion abgeriegelt, damit keine Terroristen reinkommen“, sagt Mehdi. „Wir konnten niemanden herauslassen, weil die Gefahr viel zu groß war, dass sich jemand in der Menschenmenge draußen in die Luft sprengt.“

Er spricht kurz in sein Walkie-Talkie. Wie er sich gefühlt hat? „Ich war kreidebleich und ich hatte furchtbare Angst.“ Am Gitter der Absperrung liegen mittlerweile drei Blumensträuße, auch der von Kahlida. Es ist nur der Anfang.

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