Kommentar Flüchtlingsdeal mit Türkei: Ein absolutes Armutszeugnis

Erdoğan soll Flüchtlinge abwehren. Im Gegenzug fordert er Geld und Anerkennung. Die EU darf seine undemokratische Politik nicht belohnen.

Ein Demonstrant in Istanbul kickt eine Tränengaskartusche der Polizei weg.

Sicherer Herkunftsstaat Türkei: Immer wieder setzt die Polizei Tränengas gegen oppositionelle Demonstranten ein. Foto: ap

Die Financial Times, nicht gerade bekannt für eine besonders menschenrechtsorientierte Haltung, schrieb am Donnerstag abfällig: Bundeskanzlerin Merkel wird den türkischen Präsidenten Erdoğanbei ihrem Besuch am Sonntag mit Geschenken überschütten. Diese Einschätzung wird wohl richtig sein. Merkel fühlt sich innenpolitisch so unter Druck, dass sie außenpolitisch keinerlei Hemmungen mehr hat, alle Vorbehalte, die sie bislang gegen die Türkei und vor allem gegen Erdoğan persönlich hatte, über Bord zu werfen.

Wenn Merkel in den vergangenen Tagen gefragt wurde, was denn ihr Plan sei, um die Zuwanderung von Flüchtlingen in „geordnete Bahnen“ zu lenken, fiel ihr vor allem eines ein: Die Außengrenzen der EU müssen wieder dicht werden. Da die meisten Flüchtlinge die EU derzeit über die Türkei erreichen, wird in ihren Augen Präsident Erdoğan zum unvermeidlichen, ja wichtigsten Partner bei diesem Vorhaben.

Anfang Oktober hat Erdoğan in Brüssel bereits klar gemacht, dass seine sogenannte Hilfe nicht umsonst zu haben ist. Außer dass nun etliche Milliarden für den Bau neuer Flüchtlingslager in der Türkei überwiesen werden sollen, drängt er auf die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen und den seit langem versprochenen Visaerleichterungen für Reisen türkischer Staatsbürger in die EU.

Beim Brüsseler Gipfel am Donnerstag deutete sich an: Erdoğan wird bekommen, was er will. Lediglich die Höhe der Finanzhilfen ist noch strittig. Darüber hinaus erwartet der türkische Präsident von Merkel aber auch eine Unterstützung seiner Syrienpolitik, insbesondere die Einrichtung einer Sicherheitszone entlang der türkisch-syrischen Grenze nicht zuletzt um so die PKK und die syrischen Kurden wirkungsvoller bekämpfen zu können.

Moralisch und realpolitisch fatal

Außerdem verbittet sich Erdoğan zukünftige Mäkeleien über seinen undemokratischen Regierungsstil und die massive Unterdrückung jeglicher Opposition einschließlich der Gängelung der türkischen Medien. Unterstrichen werden soll dieses Bekenntnis dadurch, dass die EU die Türkei zu einem sicheren Herkunftsland erklärt und damit quasi als demokratischen Staat zertifiziert.

Ein junger Mann aus Spandau kommt vor Gericht wegen Hanfanbaus. In Kreuzberg denkt man derweil über die Eröffnung von Coffeeshops nach. Ist das Cannabis-Verbot noch zeitgemäß? Oder wächst es uns über den Kopf? Die Titelgeschichte „Voll Gras!“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Oktober. Außerdem: Zwei Brüder, zwei Reisen. Einer kam Ende der Sechziger aus Syrien nach Frankfurt, der andere vor einem Jahr. Jetzt sind sie wieder vereint. Und: Freilerner sind Kinder, die zu Hause unterrichtet werden. Mit den Behörden geraten sie regelmäßig in Konflikt – wegen der Schulpflicht. Zu Gast in einer WG. Das alles gibt es am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Dies wäre freilich ein Hohn; seit dem Militärputsch 1980 war das Land für Kurden, aber auch für säkulare Oppositionelle nicht mehr so unsicher wie jetzt. Auch die Unterstützung der Kriegspolitik gegen die Kurden wäre nicht nur moralisch, sondern auch realpolitisch ein absolutes Armutszeugnis. Ganz abgesehen davon, dass diese Kriegspolitik nach Jahren der Entspannung wieder unendliches Leid über das Land bringt, birgt sie auch das Risiko, die Türkei vollends in den Strudel des syrischen Bürgerkriegs hineinzuziehen und damit erst recht neue Flüchtlingswellen auszulösen.

So sehr eine Wiederannäherung der Türkei an die EU zu begrüßen ist, so sehr schadet sie langfristig beiden Seiten, wenn sie zu Erdoğans Bedingungen betrieben wird. Man darf Erdoğans undemokratische und repressive Politik nicht belohnen, schon gar nicht, um dann gemeinsam mit ihm eine unmenschliche Flüchtlingspolitik an der türkisch-griechischen Grenze durchzusetzen. Merkel will keinen Stacheldraht innerhalb Europas – das ist gut und richtig, verliert aber seinen humanen Anspruch, wenn man stattdessen den Stacheldraht an Europas Außengrenze hochzieht.

Weil Merkel ausschließlich aus innenpolitischen Erwägungen handelt, mischt sie sich auch noch in den türkischen Wahlkampf ein. Für die gesamte Opposition ist es wie ein Schlag ins Gesicht, dass die deutsche Kanzlerin nicht einmal mehr die Wahl am 1. November abwartet, um dann mit einer neuen, legitimen Regierung zu verhandeln, sondern ohne jede demokratische Rücksicht den Despoten Erdoğan international und damit auch in den Augen der türkischen Wähler aufwertet, indem sie so tut, als spielten die Wahlen für Erdoğans Macht oder Ohnmacht gar keine Rolle.

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