„Die Stadt ist viel offener und bunter“

Integration In den 80er und 90er Jahren kamen Tausende Geflüchtete in die Stadt – wie nahmen die Berliner sie auf? Bosiljka Schedlich und Hamid Nowzari müssen es wissen. Schedlich kam 1968 als Gastarbeiterin nach Berlin, Nowzari floh 1980 aus dem Iran. Beide engagieren sich seit Jahrzehnten für Flüchtlinge

Hamid Nowzari

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57, floh 1980 aus dem Iran nach Westberlin, weil er politisch verfolgt wurde. In den 80er Jahren studierte er Bauingenieurswesen an der TU Berlin. 1991 wurde Nowzari Geschäftsführer des Vereins für iranische Flüchtlinge. Er selbst beschreibt den Verein als „eine Art Servicestelle“ für iranische Neuankömmlinge in Berlin. Gemeinsam mit Bosiljka Schedlich saß Nowzari acht Jahre lang im Migrationsrat Berlin–Brandenburg, dem Dachverband aller Flüchtlings- und Migrantenvereine.

Interview Julian Rodemann
Fotos Wolfgang Borrs

Auf Hamid Nowzaris Schreibtisch im Verein für iranische Flüchtlinge stapeln sich Ordner; in der Mitte liegt ein dickes Buch: „Ausländerrecht“. Bosiljka Schedlich kommt etwas zu spät zum Gesprächstermin. Nowzari serviert Kardamomtee, eine persische Spezialität. Neben die Teegläser stellt er eine Schachtel mit türkischem Honig. Fast zwei Stunden lang sprechen die beiden über Flucht, Heimat und Orangen in der AEG-Fabrik.

taz: Frau Schedlich, Herr Nowzari, am Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) warten Flüchtlinge wochenlang, um sich als Asylsuchende registrieren zu lassen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das LaGeSo besuchen?

Hamid Nowzari: Die Zustände dort erinnern mich an die Ausländerbehörde in den 80er Jahren. Dort musste ich als Student immer meine Aufenthaltserlaubnis verlängern lassen. Zwar waren es damals weniger Menschen als heute, die in Schlangen vor dem Amt warteten. Aber die Behörde war überfordert – wie heute das LaGeSo. Ich kann mich noch genau erinnern, wie der damalige Regierende Bürgermeister, Richard von Weizsäcker, sagte: „Sind wir in Berlin, oder sind wir woanders?“ Es war unglaublich.

Bosiljka Schedlich: Auch in mir wecken die Bilder vom LaGeSo Erinnerungen. In den 90er Jahren flohen 45.000 Menschen vor den Jugoslawienkriegen nach Berlin. Die Behörden waren nicht vorbereitet, obwohl man den Krieg kommen sehen konnte. Die Geflüchteten mussten sich am Waterloo-Ufer am Halleschen Tor registrieren lassen. Dort bildeten sich lange Schlangen. Einige drängelten sich nach vorne durch, um eine Registrierungsnummer zu ergattern. Die haben sie dann für 50 Mark an andere verkauft. Im Winter organisierten die Behörden Schiffe auf dem Landwehrkanal, die am Ufer anlegten. Dort konnten Frauen und Kinder unterkommen, um nicht draußen in der Kälte warten zu müssen.

Was ist heute anders als damals?

Nowzari: Ganz klar: Das sind die unzähligen, freiwilligen Helfer. Besonders in diesem Sommer. Das ist einmalig. So etwas habe ich in meinen 30 Jahren hier in Berlin noch nie erlebt.

Wie war das in den 80er und 90er Jahren?

Schedlich: Es haben damals vor allem diejenigen geholfen, die selbst Erfahrungen mit Flucht gemacht hatten. Oder deren Familienangehörige geflohen waren. Sie waren die Ersten, die mit angepackt haben. Erst später erzählten sie von ihren Vertreibungs- und Fluchterfahrungen im Zweiten Weltkrieg.

Nowzari: Das ist auch heute noch so. Mitte der 80er Jahre kamen viele junge Iraner nach Berlin, sie flohen aus dem Iran–Irak-Krieg. Heute sind hier viele fest verwurzelt. Sie sind es, die uns am häufigsten anrufen und fragen: „Was kann ich für die Flüchtlinge tun? Wo kann ich Spenden abgeben?“ Sie wollen etwas zurückgeben. Damals haben wir ihnen geholfen. Heute helfen sie den Neuankömmlingen.

War die Hilfsbereitschaft damals größer oder kleiner als heute?

Schedlich: Sie war anders. Heute helfen vor allem junge Menschen, die größtenteils keinerlei Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung gemacht haben. Ich habe das Gefühl, dass sie der Welt angehören und die Neuankömmlinge nicht als Fremde betrachten. Das ist großartig. Ich habe das Gefühl, dass sich da etwas Grundlegendes ändert.

Woran liegt das?

Nowzari: Die Stadt ist insgesamt viel offener und bunter geworden. Schauen Sie auf die Straße. Gehen Sie in eine Universität. Heute arbeiten viele mit türkischen Kollegen oder haben einen iranischen Freund in der Schule. Das Ausland ist für uns nicht mehr nur ein Urlaubsziel. Nein, dort leben Menschen und wir nehmen sie stärker wahr. Die Kommunikation zwischen den Kulturen ist leichter – auch durch soziale Netzwerke im Internet.

Sie sagten, die Behörden waren damals überfordert. Wieso, glauben Sie, haben sie daraus nicht gelernt?

Nowzari: Ich weiß es nicht. Fest steht: Die Registrierung muss neu organisiert werden. Das ist das absolut Wichtigste. Und hier muss endlich der Staat zu hundert Prozent seiner Aufgabe nachkommen. Es dauert immer noch zu lange.

Hamid Nowzari gestikuliert mit den Armen. Er stößt dabei sein Teeglas um – der Kardamomtee läuft über den Tisch .

Nowzari: Ich kenne Menschen, die seit 15 Monaten auf ein Interview warten. Das wirft sie aus der Bahn.

Kann so jemand überhaupt noch integriert werden?

Schedlich: Die Menschen, die hierher kommen, erwarten nicht das Paradies. Sie erwarten nicht, dass sie mit offenen Armen empfangen werden und sofort einen Aufenthaltsbescheid bekommen.

Sie meinen, die Menschen haben Verständnis dafür, 15 Monate auf ihren Antrag zu warten?

Schedlich: Nein! Das muss keiner verstehen. Das ist ein Ex­tremfall. Aber wir müssen mit den Menschen reden, ihnen erklären, wieso es so lange dauert. Dann können sie es auch zum Teil nachvollziehen. Die Bereitschaft dazu ist bei den Flüchtlingen vorhanden. Und wenn sie schon so lange warten müssen, dann können sie die Zeit sinnvoll nutzen. Sie sollten schon in die Kurse geschickt werden, Deutsch lernen und auf eine Arbeit vorbereitet werden.

Herr Nowzari, spielt die Religion bei der Integration eine Rolle?

Nowzari: Weniger. Natürlich müssen wir Menschen mancher religiöser Strömungen stärker aufklären als andere. Aber entscheidend sind die öffentlichen Angebote. Wenn die stimmen, ist viel erreicht.

Was meinen Sie konkret?

Nowzari: Ob Integration gelingt, hängt von vielen Dingen ab: davon, ob die Kinder zur Schule gehen können, ob man eine eigene Wohnung hat, ob man arbeiten gehen kann. Ganz wichtig sind die Kinder der Neuankömmlinge. Wenn sie eine Chance auf ein besseres Leben haben, ist aus Sicht der Erwachsenen viel erreicht. Dann sind auch sie bereit, mehr für ihre Integration zu tun: Deutsch lernen, sich engagieren und die Gesellschaft mitgestalten. Wichtig ist auch, dass sich beide Seiten aufeinander zu bewegen. Sowohl die Neuankömmlinge als auch die Deutschen.

Wer muss sich mehr bewegen?

Nowzari: Beide. Nur dann klappt die Integration.

Frau Schedlich, hat die Inte­gration bei den Flüchtlingen aus den Jugoslawienkriegen geklappt?

Schedlich: Sie sind integriert. Alle, die eine Chance auf einen Ausbildungsplatz bekommen haben, haben sie auch genutzt. Etliche sind Akademiker geworden und arbeiten heute in sehr hohen Positionen.

Am Samstag jährt sich die Deutsche Einheit zum 25. Mal. Welche Rolle spielte sie in den 90ern bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten?

Schedlich: Damals war Deutschland mit sich selbst beschäftigt. Die Stasi-Vergangenheit musste aufgearbeitet werden. Die Ost–West-Unterschiede waren riesengroß. Heute hingegen habe ich das Gefühl, dass die Deutschen in diesem großen Deutschland zu sich gefunden haben. Sie sind politisch und wirtschaftlich stärker. Und fühlen sich wohler hier. Das ist eine ganz andere Situation, in der die Flüchtlinge heute ankommen.

Glauben Sie, dass Flüchtlinge heute in den Westbezirken anders aufgenommen werden als in den Ostbezirken?

Schedlich: Viele junge Helfer sind nach der Wende geboren, oder waren Kleinkinder, als die Mauer fiel. Für sie ist egal, in welchem Teil der Stadt sie wohnen. Sie nehmen die Neuankömmlinge sehr herzlich auf; von kleinen, rechten Minderheiten einmal abgesehen.

Und diejenigen, die Berlins Teilung noch miterlebt haben?

Bosiljka Schedlich

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66, wurde in Split geboren und kam 1968 als Gastarbeiterin nach Westberlin. In den 70er Jahren studierte sie Germanistik an der FU Berlin. Später übersetzte die Kroatin als Dolmetscherin Serbokroatisch ins Deutsche – erst in einem Wohnheim, ab 1973 an Berliner Gerichten. 1991 gründete sie den Verein für Südosteuropa-Kultur mit, der Neuankömmlinge aus dem Balkan psycho-sozial betreut und den kulturellen Austausch zwischen den verschiedenen Volksgruppen fördert.

Schedlich: Da ist es anders. Viele denken noch sehr unterschiedlich. Die DDR hat 40 Jahre lang existiert. Ich glaube, es braucht auch 40 Jahre, damit sie aus den Köpfen der Menschen verschwindet. Das merken manchmal auch die Menschen, die neu in Berlin ankommen.

Nowzari: Ich glaube, innerhalb von Berlin gibt es da weniger Unterschiede zwischen Ost und West als andernorts. Vergleichen Sie zum Beispiel Dresden mit Köln. Dort ist klarer zu sehen, dass Wessis mehr Erfahrung im Umgang mit Zuwanderern haben als Ossis. So etwas braucht Zeit. Man muss lernen, miteinander klar zukommen, zusammen zu leben, sich auch mal zu streiten.

Schedlich: Das stimmt. Im Osten fehlten die Erfahrungen.

Auch in der DDR gab es Gastarbeiter.

Nowzari: Aber die wohnten alle in staatlich kontrollierten Gettos. Ich kenne einige Vietnamesen und Afrikaner, die damals in der DDR gelebt haben. Soweit ich das von denen erfahren habe, waren sie nicht wirklich in Kontakt mit den Deutschen.

Schedlich: Es gab kaum menschliche Kontakte, weil das staatlich nicht gewollt war. In den 90ern kamen dann viele Ostdeutsche mit fremden Menschen in Kontakt. Und die Ossis haben ihnen geholfen und sie herzlich aufgenommen. Selbst dort, wo Anschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte verübt wurden, gab es Solidaritätsbekundungen mit den Geflüchteten. Sie sehen, wie wichtig der direkte zwischenmenschliche Kontakt ist.

Sie selbst kamen 1968 als Gastarbeiterin nach Westberlin. Wann haben Sie sich zum ersten Mal in der Stadt zu Hause gefühlt?

Schedlich: Von Anfang an habe ich mich unter den Menschen wohl gefühlt. In den ersten sechs Monaten habe ich in der AEG-Telefunken-Fabrik gearbeitet. Ich habe Nadeln von Plattenspielern mit dem Mikroskop kontrolliert. Ich musste überprüfen, ob sie glatt und rund waren. Neben mir saß eine Frau Röhmhild. Wir haben uns häufig unterhalten.

Auf Deutsch?

Schedlich: Nein, auf Englisch. Deutsch sprach ich noch nicht. Nach der Arbeit bin ich damals in die Schule gegangen, um Deutsch zu lernen. Das hat Frau Röhmhild gefallen, glaube ich. Außerdem hatte sie eine Tochter in meinem Alter. Frau Röhmhild brachte mir immer Joghurt und Orangen mit. Das werde ich nie vergessen. Sie war meine Brücke zu Berlin. Mit der Farbe des Himmels kam ich erst nach 25 Jahren klar. Erst da ist meine Seele in der Natur angekommen. Aber kulturell und menschlich habe ich mich von Anfang an zu Hause gefühlt.

Und Sie, Herr Nowzari?

Nowzari: Ich habe in den 80er Jahren an der TU Berlin Bauingenieurswesen studiert. Als ich 1989 mit dem Studium fertig war, habe ich meine Familie in den USA besucht. Nach drei Wochen dachte ich mir: „Das kann doch nicht sein – Ich vermisse Berlin!“ (lacht) Da war mir klar, dass Berlin meine Heimat ist.