Ambient-Pionier Hans-Joachim Roedelius: „Ich quäle die Leute mit Stille“

Hans-Joachim Roedelius hat mit den Krautrockbands Cluster und Harmonia Musikgeschichte geschrieben. In Berlin widmet sich ihm ein Festival.

Alter Mann mit Glatze und Schal vor dunklem Hintergrund.

„Ich muss ganz wach sein“: Elektronik-Pionier Hans-Joachim Roedelius macht bis heute Musik. Foto: Alexander Gonzales

taz: Herr Roedelius, „Lifelines“ heißt das Festival, das sich Ihrer Kunst widmet. Sie waren zunächst Krankenpfleger, Sterbebegleiter, Physiotherapeut und Masseur, ehe Sie zur Musik kamen. Sind sie zufällig Musiker geworden?

Hans-Joachim Roedelius: „Zufällig“ kann man nicht sagen. Ich denke, ich bin bereits durch meine Vorfahren für die Musik und Wortkunst prädestiniert gewesen. Viele davon waren Prediger, Kantoren und Lehrer; das habe ich nach der Wende von Verwandten erfahren, die auf der anderen Seite der Mauer gelebt haben. Grundsätzlich haben die genannten Tätigkeiten vieles mit meinem jetzigen Beruf zu tun: Es wird mir oft bestätigt, dass es ziemlich heilsam ist, was ich musikalisch mache; auch, was ich in meinen Texten schreibe.

Ist Ihre Musik mit der Zeit meditativer geworden?

Als wir anfingen, hatten wir ja überhaupt keine Ahnung vom Musikmachen. Wir mussten uns alles selbst beibringen, unsere Tonsprache völlig neu erfinden, sowohl in der Zusammenarbeit mit dem kürzlich verstorbenen Dieter Moebius als auch mit Conrad Schnitzler, mit dem wir zusammen bei Kluster (später Cluster) spielten. Wir mussten herausfinden, wie sinnvoll es – zuerst für uns, aber auch für andere – ist, was wir über unsere Klanggeschichten vermitteln wollten. Die Musik wurde mit der Zeit stiller, kontemplativer. Das ging einher damit, dass ich mich gemeinsam mit Moebius an diesem wunderbar idyllischen Wohnplatz in Forst im Weserbergland niederlassen konnte.

Haben Sie sich alle Instrumente und Programme autodidaktisch angeeignet?

Ja, natürlich.

Hans-Joachim Roedelius, geboren 1934 in Berlin, war in den siebziger Jahren Mitgründer der Krautrock-Gruppen Kluster (Cluster) und Harmonia. In dieser Zeit war er wichtiger Teil der elektronischen Avantgarde in Deutschland. Seit den Achtzigern veröffentlichte er über 40 Soloalben, parallel gab es immer wieder Kooperationen mit internationalen Künstlern.

„Lifelines“, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 3. bis 6. September. www.hkw.de.

Auch das Klavier, das Sie heute so viel einsetzen?

Vor allem das Klavier. Als Kind wollte meine Mutter zwar, dass ich darauf zu spielen lerne. Das hat aber nicht geklappt, weil das Ding immer verstimmt war – das hat mich wahnsinnig genervt. Einmal in der Woche saß ich davor. Das hat aber nichts gebracht. Noten zu lesen und zu schreiben habe ich nicht gelernt – das kann ich immer noch nicht; will ich auch nicht. All das, was ein normaler Musiker lernen muss, brauche ich nicht. Ich habe ja bewiesen, dass man auch ohne akademische Ausbildung in der Musik beziehungsweise Kunst weit kommen kann.

War eine solche Haltung bei den Krautrockern, zu denen man Sie zählte, vorherrschend?

Es waren viele dabei, die bei null angefangen haben, etwas zu machen. Es gab aber auch Leute wie Holger Czukay von Can, die sehr wohl wussten, was sie taten. Ich hab Musik immer aus dem Bauch heraus gemacht, ich hab’s wachsen lassen – das ist eine ganz andere Herangehensweise.

Einfach machen, sich ausprobieren war ja eigentlich eine Errungenschaft, die man später mit Punk verband. War bei Ihnen dank Joseph Beuys dieser Gestus schon angelegt?

Beuys war der Lehrer Conrad Schnitzlers, der ja Kluster gegründet hat. Prinzip unserer Gruppe war es, mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln das zu machen, was sich aus dem Augenblick ergibt. Das basierte auf dem, was Schnitzler von Beuys gelernt hatte.

Sie beschäftigen sich seit mehr als 40 Jahren mit elektronischer Musik, es sind mehr als 200 Alben in Verbindung mit Ihrem Namen veröffentlicht. Wie entdecken Sie heute noch etwas Neues?

Die Basis dafür ist die lange Erfahrung im Live-Spielen. Ich habe bislang mit unzähligen Partnern zusammen gespielt, die alle mit ihrer Persönlichkeit etwas anderes eingebracht haben. Das Reagieren auf das Gegenüber schafft schon so viel Spannung, dass sich daraus etwas Neues ergibt. Live zu spielen ist wichtiger als die Musik aus der Konserve – da hat man den direkten Kontakt zum Publikum und weiß sofort, wie relevant es ist, was man aus dem Moment heraus zum Klingen bringt.

Mit welchen Programmen und mit welchem Material arbeiten Sie?

Ich benutze eine Menge Soundquellen – nicht nur vom Rechner. Über die Jahre habe ich viel Material gesammelt. Ich bemühe mich, beim Auftritt aus dem mitgenommenen Ge­räusch­fundus passendes Klangmaterial davon in das jeweils entstehende Ganze einfließen zu lassen. Es ist immer eine spannende Sache, eine Klanggeschichte vor dem Hintergrund dessen aufzubauen, was man in 40 Jahren schon alles gemacht hat. Genauso, wie mit neuen Tools zu arbeiten. Zum Beispiel benutze ich seit Neuestem ein iPad mit einem Programm namens Animoog, mit dem man vorgefertigte Sounds abrufen und dabei nach eigenem Gusto klanglich manipulieren kann.

Spielen Sie außer dem Klavier heute noch andere Instrumente manuell?

Manchmal habe ich Klangschalen dabei. Oder Metalle, mit denen ich arbeite. Es kommt drauf an, wo ich eingeladen bin und was ich machen soll.

Arbeiten Sie noch viel mit Field Recordings?

Damit habe ich ja bereits damals im Zodiak Free Arts Lab angefangen, das wir in West-Berlin gegründet haben. Ich habe aus dieser Zeit noch sehr viele Konserven parat. Fließendes Wasser und so. Oder Ameisen beim Liebesakt.

Da hört man aber nicht so viel?

Ich habe das Glück, machen zu können, was ich will. Auch wenn nicht viel passiert, passiert etwas – man muss halt die Ohren aufsperren. Meine Frau sagt manchmal, ich quälte die Leute mit Stille. Stiller zu werden ist inzwischen Absicht bei mir, weil ich so viel Krach erlebt und selbst Krach erzeugt habe in den frühen Jahren, dass mir das irgendwann mal auf die Nerven ging. Es hat sich logisch ergeben, dass ich immer leiser wurde: ich werde ja auch immer älter.

In den vergangenen Jahren hat man mehr und mehr die Bedeutung der elektronischen Musik der Siebziger, des Krautrocks und der Am­bient-Pioniere erkannt. Auch in Deutschland hat das etwas zugenommen …

… Betonung auf „etwas“! Der deutschsprachige Raum, mit Ausnahme der Schweizer, ist eigentlich immer noch ziemlich uninteressiert an unserer Arbeit, was aber sicher seine Ursache darin hat, dass wir kaum Zuspruch seitens der Medien hatten und haben. Nur wenige wissen von uns. Das merkt auch an den Verkäufen: Die Labels Grönland und Bureau B verkaufen im Ausland weit mehr als in Deutschland.

Wie wichtig ist es für Sie, dass sich das Grönland-Label von Herbert Grönemeyer und Bureau B sich Ihres Werks mit zahlreichen Veröffentlichungen annehmen?

Was Bureau B und Grönland leisten, ist ein Gottesgeschenk. Welche Energie, welches Sachverständnis und wie viel Gestaltungsvermögen die da reinstecken, ist fantastisch. Und auch ’n Haufen Geld! Ist ja nicht so, dass die Alben sofort über die Ladentheke gehen – die Labels müssen auch erst warten, bis sich das refinanziert.

Spüren Sie denn selbst ein größeres öffentliches Interesse an Ihrer Musik?

Ja, langsam, aber sicher. Vor allem in der jungen Generation gibt es Zuspruch: das ist eine große Freude für mich, wenn 16- oder 20-Jährige sich für meine Musik begeistern.

Gibt es beim Schreiben Ihrer Stücke Kategorien, in denen Sie Musik denken?

Hm, was soll ich da sagen? Wenn ich Musiken „schreibe“, muss ich aufpassen, dass der Kopf leer ist und dass ich nur meinem Herz folge. Ich muss ganz wach sein, um es so machen zu können, wie ich meine, dass das Stück selbst es verlangt. Also ohne Fragen im Kopf wie „Was muss jetzt kommen?“ oder „Müsste jetzt nicht das und das geschehen?“.

So wie ein Popmusiker eine Zeitvorgabe im Kopf hat, wie lang ein Song zu dauern hat?

Ja. Aber dort gibt es auch viele Vorbilder. Gerade in der Popmusik gibt es viele wunderbar strukturierte Kompositionen, die wirklich überzeugend sind von ihrer Machart her. Aber das ist nicht meine Arbeit, das sind zwei völlig verschiedene Welten.

Gibt es im Pop heute etwas, das sie begeistert?

Ja natürlich! Ich könnte da manchmal hinrennen und den oder die Komponisten oder Komponistin umarmen. Klar gibt es Perlen in der Popmusik. Aber selten. Das meiste ist sich sehr ähnlich. Man merkt, dass der eine den anderen nachmacht. Andererseits: Nach all dem, was in der Kunst schon passiert ist, darf man auch nicht danach verlangen, dass jeden Tag etwas wunderbares Neues geschieht.

Bei den „Lifelines“ werden Sie als Gesamtkunstwerk angekündigt. Passt das?

Es klingt ein bisschen überkandidelt, aber ist richtig. Ich schreibe ja neben und zu der Musik auch noch Texte, und ein bildnerisches Werk gibt es auch. Ich bin als Künstler auch politisch, auch wenn ich nicht auf die Straße gehe und demonstriere, etwa jetzt gegen die Flüchtlingsfeinde. Aber ich bin natürlich im Herzen mit den Flüchtlingen. Man kann diesbezüglich nur mit Freunden und Familie ein Gegengewicht schaffen, in der Art, wie man lebt, wie man sich verhält gegenüber anderen. Ich selbst bin im Krieg aufgewachsen, mit Bomben groß geworden. Später saß ich im Gefängnis, die Stasi hatte mich in der Mangel. Da mein Werk mit all diesen Erfahrungen zu tun hat, ist Gesamtkunstwerk der richtige Ausdruck. Ich weiß sehr genau, was einem alles passieren kann im Leben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.