ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #8: Aufmarsch der Verzweifelten

Trachten, Zackigkeit und Verzweiflung: Was eine Kundgebung für die Förderung von Marschmusik mit den Klängen des ESC zu tun hat.

Rumtata und tätärätätä! Kundgebung für die Förderung von Marschmusik in Wien. Bild: Rolf Klatt

Neulich demonstrierten vor dem ausgesprochen schönen Parlamentsgebäude von Wien viele Menschen. Es wurde viel angemahnt und angezeigt: Besorgnis natürlich in erster Linie. Mal gegen die Aushöhlung von Gewerkschaftsrechten, dann wieder für mehr Wohnungsbau. Diese Klageversammlung aber muss von Amateuren vorbereitet worden sein.

Denn schon von der anderen Straßenseite sah man die Aufschriften der Transparente nicht mehr. Man musste also hingehen, um zu sehen, was sie bewegt. Und das war etwas von starkem Gefallen, gleichzeitig von einiger Irritation: Die vielleicht 500 Menschen forderten die Förderung von Marschmusik, also von militärischem Sound, mit dem die Soldateska von einst in Kriege zog, als Mietsöldner oder Zwangsrekruten oder einfach aus Abenteuerlust.

Vielleicht wissen Jüngere gar nicht mehr recht, was Marschmusik ist – selbst die deutschen Radiowellen mit Fokussierung auf ein sehr altes Publikum haben ihre Marschmusiksendungen zunächst in den späten Abend verdammt, inzwischen sind sie ganz kassiert worden. Publikum tot, nicht mehr nötig, sozusagen!

Heutige Kriegsfördermusik ist ohnehin nicht mehr zu unterscheiden von den gängigen Charteinträgen. Wer am Drohnenjoystick sitzt, hört erstens gar nichts und in der Freizeit eher Independentzeug oder elektrosmogische Sounds.

Die Klänge ihrer Kindheit

Insofern muss man sagen: Die Leute, teils in Trachten, allermeist mit Blasmusikinstrumenten bewehrt, können einem Leid tun. Aufgewachsen mit den auf Zackigkeiten getakteten Klängen müssen sie nun am Lebensabend erleben, dass man in dieser modernen Welt nichts mehr von ihnen hören will. Und sie auch nicht zu hören bekommen, was sie gern hätten. Insofern: ein Aufmarsch der Verzweifelten in Wien.

Und ein Beweis, dass selbst die fettesten Kulturphänomene nie solche von allen sind. Wer Heavy Metal hört, tut dies als Minderheit; selbst wer nur Mainstream zuneigt, ist nicht im Haupstrom des Geschmacklichen zur Zeit, vielmehr gerade im Visier der Warenanbieter, also der Plattenindustrie, die aus Marktforschungen weiß, wer was aus welcher gesellschaftlichen Position heraus hört.

Man könnte sagen: Die heutige Marschmusik ist eine eher friedliebende, vom Klang her eher nicht antreibend. Kriegsstimulierende Musik an sich gibt es insofern nicht mehr: Drohnenbedienung funktioniert mit Starbuck's-Musik oder mit solcher, die in angesagten Clubs aufgelegt wird. Man verhält sich zur Welt kritisch, um sie ästhetisch zu erobern. Oder: Man will seinen Platz in der Welt und verhält sich zu ihr kritisch, weil nicht jeder gleich in der Welt das innehat, was er oder sie gern hätte. Marschmusik war einmal Mainstream.Sie wurde gehört von Menschen, die auch Operette gern haben.

Nur der ESC entzieht sich in gewisser Weise dieser Logik, deren feinste Verästelungen man bei Pierre Bourdieu akkurat nachlesen kann: Auch hier in Wien werden in europäischem Kontext Stile verhandelt. Für zu leicht oder als schwer genug befunden. Nach Marschmusik klingt nichts beim 60. Eurovision Song Contest, zumal auch keine technolastige Nummer dabei ist.

Der ESC atmete stets strikt antimilitärischen Geist – nicht, weil es in den Regelwerken stünde, Kriegsmusik sei verboten. Sondern weil Europa noch vor 70 bis 100 Jahren miteinander so verfeindet war, dass es zu keinem Popmusikfestival zusammengefunden hätte. Und was den einen als Marsch gefällt, widert andere an. Wobei die Wiener Protestierer gegen die kulturelle Austrocknung ihrer Vorlieben gar nicht kriegslüstern sind. Sie wollen nur die Klänge ihrer Kindheit, ihrer seligen jüngeren Lebenszeit zurück.

Der „Radetzkymarsch“ beim ESC

Man sah vor dem Parlament sehr viele Männer, einige Paare (Mann-Frau-Kombinationen durchweg), aber das bedeutet nicht, lesbische Frauen oder schwule Männer könnten qua Natur ein gebrochenes Verhältnis zur Marschmusik haben. Ich kenne einen queeren Kulturwissenschaftler in Helsinki, der die Plattensammlung seines Großvaters in Ehren hält – viel Schellack, auch noch Vinylpressungen sind darunter. Aber alles Marschhafte direkt militärischer Art, auch Marschstücke von Bach, Tschaikowsky, Schubert, Beethoven bis zu Mozart.

Der „Radetzkymarsch“ beim ESC – er erhielte, so simpel er auch sein könnte, keinen Punkt: Er klänge wie Musik aus einer fremden Galaxie. Oder nur dann, wenn er in feineres Arrangement verpackt ist. So wie Bosnien & Herzegowina 2009. Das war ein Marsch aufgeblähter Art und konnte auch nicht besonders viele Punkte ernten.

Was die Marschmusikeinkläger in Wien wollen, ist ohnehin ja keine musikalische Zwangsbeglückung, sondern nur etwas Aufmerksamkeit. Auf Augenhöhe sein. Mitgenommen und abgeholt werden. Also diese ganzen Sozialtechniken in Anspruch nehmen dürfen. Vergebens. Sie sind Lifestyleverlierer, und sie wollen es nicht einsehen.

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Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Kurator des taz lab und des taz Talk. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders der Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. Er ist auch noch HSV-, inzwischen besonders RB Leipzig-Fan. Und er ist verheiratet seit 2011 mit dem Historiker Rainer Nicolaysen aus Hamburg.

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