New Yorks größte Suppenküche: "Du sollst die Hungrigen speisen"

Etwa 1.300 Menschen stehen täglich in der Holy Apostles Soup Kitchen in New York Schlange. Neuerdings kommen auch Leute, die zwar Arbeit, aber dennoch nicht genug Geld zum Essen haben.

Etwa 1.200 Notstellen und Suppenküchen gibt es in New York. Bild: dpa

Es ist erst acht Uhr in der Frühe eines eisigen Wintertages, doch die Schlange der Hungrigen zieht sich schon fast ganz um den tristen Sozialbaublock im äußersten Westen Manhattans, im Stadtteil Chelsea. Erst in zweieinhalb Stunden öffnet hier die größte Suppenküche New Yorks. Sie befindet sich in der Church of the Holy Apostles, deren 160 Jahre alter Klinkerbau wie ein vergessener Überrest einer anderen Zeit zwischen den grauen Wohntürmen eingequetscht ist. Die meisten, die hier anstehen, können es kaum erwarten, bis die Pforten des schlichten Gotteshauses geöffnet werden. Es wird ihre einzige Mahlzeit sein und die halbe Stunde, die sie in der Kirche verweilen dürfen, die einzige Zuflucht in einer Stadt, die für Arme und Obdachlose ansonsten keinen Platz hat.

Sie haben auf den harten Schalensitzen der U-Bahn-Linie E übernachtet, vor dem Hauptpostamt auf der Seventh Avenue oder im Eingangsbereich des 24-Stunden-Kopierladens gegenüber. Hauptsache, man ist morgens gleich da. Nun stehen sie am Zaun des Kirchengrundstücks aufgereiht - eine Kompanie zerlumpter Gestalten, ein Bild so bitter wie die berühmten Dokumentarfotos von Dorothea Lange oder Walker Evans aus der großen Depression der 30er-Jahre. Viele Wartende tragen bei der Kälte ihre gesamte Garderobe am Leib. Andere schieben ihr Hab und Gut in einem Einkaufswagen vor sich her. Das Empire State Building, das seinen Schatten über Chelsea wirft, wirkt wie eine unwirkliche Erinnerung daran, dass man noch immer im glanzvollen Manhattan ist. Noch ist Warten angesagt.

Sie ist ein hocheffizienter Betrieb, diese Suppenküche. Wenn um halb elf die Pforten der Holy Apostles öffnen, schleusen Ordner in gelben Sicherheitswesten die "Gäste", wie die Hungrigen der Stadt hier genannt werden, in einen kleinen Vorraum, wo an langen Tischen Freiwillige mit Kellen hinter großen Trögen warten. Einen Schlag Reis, einen Schlag Gemüse, ein Stück Fleisch, genau 2.500 Kalorien insgesamt gibt es auf den Teller, der Tagesbedarf eines Erwachsenen. Dann geht es ab ins Hauptschiff der Kirche, wo unter hohen neogotischen Bögen und elaborierten Fenstermalereien 15 große runde Tische à zehn Sitzplätze aufgestellt sind. Die Kirchenbänke sind schon lange abmontiert worden, zum Gottesdienst am Sonntag werden Klappstühle aufgestellt. 1.300 bis 1.400 Menschen werden von 75 Helfern bis 14 Uhr hier durchgeschleust. Das ist nationaler Rekord.

Die Pastorin der episkopischen Gemeinde, Elizabeth Maxwell, die alle nur "Mutter Liz" nennen, ist alles andere als stolz auf diesen Rekord. "Am liebsten wäre es uns, wenn wir das hier überhaupt nicht machen müssten", sagt die 54 Jahre alte Frau, der das graue Haar strähnig in der Stirn hängt und der die Erschöpfung Ringe unter die Augen gemalt hat. Schlimmer aber noch als die Tatsache, dass der Hunger so viele Menschen in ihre Kirche treibt, ist es für Mutter Liz, dass sie nicht mehr weiß, wie sie den Betrieb aufrechterhalten soll.

"Wir sind wirklich im Moment von allen Seiten unter Beschuss", sagt sie an ihren Altar gedrängt, um dem geschäftigen Betrieb in ihrer Kirche nicht im Weg zu stehen. Ein steter Strom von Gästen drängt mit einem Tablett in der Hand in die Kirche auf der Suche nach einem freien Sitzplatz. Helfer mit Gummihandschuhen wuseln umher, um die Tische im Wechsel für die Nächsten freizuräumen. Im September, dem Monat des Zusammenbruchs an der Wall Street, so Mutter Liz, seien 22 Prozent mehr Hungrige als im selben Monat des Vorjahrs gekommen. Gleichzeitig hat der Staat New York innerhalb von fünf Monaten die Bezuschussung von Hungerhilfseinrichtungen um insgesamt 20 Prozent gekürzt. Und die Spenden von den Stiftungen, die sich früher auf großzügige Beiträge aus der Finanzwelt verlassen konnten, würden auch immer dünner. Wenn nichts Dramatisches passiere, sagt Mutter Liz, dann sei ihre Suppenküche in wenigen Monaten am Ende. Dabei geht es Holy Apostles noch vergleichsweise gut. "Andere Suppenküchen haben schon dichtgemacht."

Der Ernst der Lage kann gar nicht übertrieben werden. Man sieht es selten so deutlich wie morgens um zehn an der 28. Straße: New York steckt in einer Hungerkrise. 45 Prozent der Familien mit Kindern im Stadtgebiet können nicht mehr aus eigener Kraft genügend Lebensmittel auf den Tisch bringen. Beinahe zwei Millionen Menschen in der Stadt leben unter der Armutsgrenze - ein Viertel der Bevölkerung. "Die meisten von ihnen", meint Mutter Liz, "müssen sich zwischen Essen und Krankenversicherung entscheiden."

Mutter Liz ist gewiss kein zorniges Gemüt, aber wenn sie anfängt, über die soziale Gesamtsituation ihrer Stadt zu reden, gerät sogar sie in Rage. Die Tatsache, dass es im Schatten der opulentesten Konsumtempel und der Konzernzentralen in solch unfassbarem Ausmaß Hunger gebe, wettert sie, werde ignoriert - von der Politik, von der Wirtschaft, von den Medien. "Es ist einfach unakzeptabel, dass Millionen von Menschen nichts zu essen haben. Wir brauchen eine völlig neue Diskussion darüber, was Gemeinwohl bedeutet."

Gewiss, Armut und krasse soziale Gegensätze hat es in New York immer gegeben. Seit sich die Finanzkrise zur Depression ausweitet, scheint jedoch niemand mehr wirklich gefeit davor, bei Mutter Liz in der Schlange zu stehen. "Wir sehen hier vielleicht noch keine arbeitslosen Banker, aber ihre arbeitslosen Putzfrauen und die arbeitslosen Chauffeure, die sind schon da." In vielen Fällen, so die Pastorin, hätten ihre Gäste sogar Arbeit, könnten von dem Lohn in New York jedoch nicht leben. Ihre Gemeinde macht da keine Unterschiede, jeder, der an die Kirchenschwelle kommt, wird auch gespeist. "Wir fragen nicht", sagt Mutter Liz. "Wir gehen davon aus, dass niemand gerne in einer Suppenschlange steht."

So mischen sich zwischen die hoffnungslosen Fälle, die Langzeitobdachlosen und die Alkoholiker nicht wenige, die so wirken, als würden sie nach dem Essen wieder ins Büro gehen. Ein Mann in Anzug und Krawatte etwa sammelt von einem Tisch, an dem gerade eine Gruppe aufgestanden ist, übrig gebliebene Brotscheiben auf. Seine Geschichte erzählen mag er aus Scham freilich nicht. Er habe keine Zeit, entschuldigt er sich höflich, er müsse noch zu einem Termin.

Noch während der Mann das Brot in eine Papierserviette verpackt, rücken an dem Tisch in der Mitte der Kirche die nächsten zehn Esser an. Es ist ein Querschnitt der unteren Zehntausend New Yorks: eine verwirrt wirkende Frau, die viel zu viel Lippenstift aufgetragen hat, ein kurzhaariger Schwarzer mit kantigem Gesicht, der zugibt, gerade aus dem Gefängnis entlassen worden zu sein, ein streng riechender junger Mann in einem fleckigen Mantel, der offenbar schon längere Zeit auf der Straße lebt. Sie reden kaum miteinander, man will in Frieden seine tägliche halbe Stunde im Warmen genießen. Gehetzt wird dabei niemand. Dennoch kommen wie durch ein Wunder alle 1.300 Wartenden zum Zuge. Niemand, so scheint es, strapaziert sein Gastrecht über die Maßen.

Um kurz vor eins setzt sich Derron Johnson an einen Tisch ganz am Rande des Gewölbes. Der junge schwarze Mann ist gepflegt und freundlich und, anders als viele hier, offen und dankbar für die Gelegenheit, seine Geschichte zu erzählen. 13 Jahre habe er als Pfleger in einem Krankenhaus gearbeitet, berichtet er, dann vier Jahre lang als Zimmerkellner in einem großen Hotel am Times Square. Dann kam die Rezession, der Tourismus brach ein, und Derron Johnson saß auf der Straße. Das Schlimme daran, berichtet Johnson, sei gar nicht einmal das Herumvagabundieren, die Nächte in der U-Bahn, das Schlangestehen hier an der Kirche, die tägliche Suche nach Gelegenheiten, Grundbedürfnisse wie Körperpflege zu befriedigen. Das wirklich Schlimme sei die Ausweglosigkeit. Immer schwerer falle es ihm, so Johnson, neben dem nackten täglichen Überleben die Energie für die aussichtslose Jobsuche aufzubringen: "Es gibt im Moment in New York einfach keine Jobs."

Auch Patricia klagt darüber, wie schwierig es sei, wieder in ein normales Leben zurückzufinden, wenn man erst einmal durch die Maschen gerutscht ist. Wie Derron hat es die zierliche schwarze Frau geschafft, sich nicht gehen zu lassen. Ihr Haar ist frisch frisiert, sie trägt einen hübschen Wollpullover, in den passend zu den Festtagen sogar etwas Glitter eingewoben ist. Patricia war Verkäuferin in einem Möbelgeschäft, bevor sie entlassen wurde und kurz darauf aus ihrer Wohnung flog. Seither muss sie von Asyl zu Asyl vagabundieren, weil diese keine Langzeitmieter dulden. Ihr Antrag auf eine subventionierte Wohnung wurde erst nach einem Jahr überhaupt bearbeitet. Bei dem ständigen Umziehen sei es jedoch beinahe unmöglich, sich um neue Arbeit zu kümmern. Das System, das will Patricia hier unbedingt einmal zu Protokoll geben, tauge einfach nicht dazu, einem zu helfen. Im Gegenteil: "Es hält dich unten."

So kämpft jeder in Holy Apostles seinen eigenen Kampf. Oft gibt es, wie für Derron und Patricia, wenig Aussicht, dass dieser Kampf auch gewonnen werden kann. Es ist eher ein verzweifeltes Ringen darum, nicht völlig unterzugehen. Mutter Liz kann das gut nachfühlen. Auch ihr Kampf gegen das Elend und gegen die Gleichgültigkeit scheint zunehmend aussichtslos. Warum sie ihn trotzdem immer weiterführt? "Jesus hat gesagt, du sollst die Hungrigen speisen. So einfach ist das", sagt sie. Und weil die ansonsten der Welt so zugewandte Pastorin schon bei der Bibel ist, fügt sie gleich noch an: "Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Steht in Matthäus 25."

Der Saal hat sich derweil geleert. Gemächlich schlürfen die letzten Gäste ihren Kaffee, den es nach dem Essen aus großen Blechkannen gibt, und zögern noch ein wenig die Zeit hinaus, bevor sie wieder hinausmüssen in die Kälte. Auf dem Weg nach draußen gibt es für jeden noch eine Orange. Sie verschwindet in den Manteltaschen, dann werden die Mützen wieder über die Ohren gezogen und die Bündel und Handkarren geschnappt, die Kirchenhelfer vor der Tür aufbewahrt hatten. Träge schleppt sich das Elend zurück auf die Straßen Manhattans und verliert sich dann in der allgemeinen lärmenden Geschäftigkeit. Bis zum nächsten Morgen, wenn es an der 28. Straße wieder Gestalt annimmt.

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