Heitmeyer-Studie: Die Angst vor dem Absturz wächst

Die aktuelle Heitmeyer-Studie zeigt: Ressentiments gegen Frauen, Muslime oder Behinderte gehen zurück. Antisemitismus und Homophobie nehmen hingegen zu.

Bedürftige warten auf Essensverteilung: Die Wut auf die Verursacher der Krise nimmt zu. Bild: ap

BERLIN taz | Trotz der Wirtschaftskrise haben die Ressentiments in der Gesellschaft gegen Frauen, Muslime, Obdachlose, Behinderte, Langzeitarbeitslose, Nichtweiße und "Ausländer" im vergangenen Jahr nicht zugenommen, zum Teil sogar abgenommen. Aber es gibt zwei Ausnahmen: Vorurteile gegen Homosexuelle und gegen Juden sind etwas häufiger geworden.

Das sind zentrale Ergebnisse der repräsentativen Studie "Deutsche Zustände" von Bielefelder Wissenschaftlern um den Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Für die seit 2002 jährlich vorgenommene Untersuchung befragte man in diesem Sommer 2.000 Personen zur sogenannten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Die Grundthese dahinter ist, dass Menschen, die Vorurteile gegen eine Gruppe anderer Menschen haben, diese in der Regel auch gegen eine dritte oder vierte Gruppe pflegen.

Wer also "Ausländer" hasst, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit auch gegen Frauen, Muslime oder Obdachlose Ressentiments pflegen - also in der Regel gegen Gruppen von Menschen, die als weniger wertvoll als das eigene Kollektiv betrachtet werden.

Heitmeyer sagte bei der Vorstellung der Studie in Berlin, in Bezug auf die Abwertung von Homosexuellen und Juden scheine sich eine "negative Trendwende anzudeuten". Insgesamt aber zeigten sich, gerade im Vergleich zur ersten Studie aus dem Jahr 2002, "durchaus erfreuliche Ergebnisse". Dennoch warnte Heitmeyer: Angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise nehme die Angst immer mehr zu, sozial und wirtschaftlich den Boden zu verlieren, "desintegriert" zu werden, wie es im Soziologendeutsch heißt. Die Wut auf die für die Krise Verantwortlichen nehme zu. Dies lasse zudem die "Kernnormen" der Gesellschaft erodieren, wozu etwa Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit zählen. Zunehmend werde auch das grundsätzliche Gefühl der Gleichwertigkeit aller Menschen brüchig.

Gerade Menschen, die sich als politisch machtlos empfänden, neigten dazu, jene Gruppen vermehrt abzuwerten, die sie als weniger wertvoll verstünden. Da sei es ein Glücksfall für die Bundesrepublik, dass bisher kein Populist wie der niederländische Politiker Geert Wilders aufgetreten sei. Klar sei, dass rechtspopulistische Einstellungen in allen sozialen Lagern zu finden seien.

Knapp die Hälfte der Bundesbürger empfindet sich als von der Wirtschaftskrise bedroht, so die Studie. Persönlich betroffen fühlen sich fast 40 Prozent. Drei von vier Menschen in Deutschland sehen Fehler im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Dass Banker und Spekulanten schuld an der Krise sind, glauben fast 90 Prozent der Befragten. 80 Prozent waren der Ansicht, dass "Leute wie ich" für die Fehler der Wirtschaft und Politik geradestehen - und letztlich die Wirtschaftskrise ausbaden müssten.

Gerade wer sich direkt von der Wirtschaftskrise betroffen fühle, neige eher dazu, vorurteilsbeladen Unterschiede zwischen Menschengruppen zu behaupten und Solidarität aufzukündigen. Das zeigt dieses Phänomen: "In Zeiten der Wirtschaftskrise können wir es uns nicht leisten, allen Menschen die gleichen Rechte zu garantieren" - dieser Aussage stimmten immerhin 35 Prozent der Menschen zu, die von sich sagten, selbst von der Krise betroffen zu sein. Interessant ist auch, dass weniger als 10 Prozent der Menschen noch diesen Satz richtig finden: "Im Allgemeinen geht es gerecht auf der Welt zu."

Heitmeyer warnte: Es drohe die Gefahr, dass die aus der Finanzkrise entstandene Wirtschaftskrise zunehmend zu einer Fiskalkrise und schließlich zu einer Gesellschaftskrise werde. Dies aber könne Folgen für das demokratische System insgesamt haben. Auch die Spaltung der Gesellschaft schreite immer weiter voran.

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