Stalinismus in Georgien: Was vom roten Terror bleibt

Stalin wird in Georgien geliebt und gehasst - seine Verbrechen aber wenig aufgearbeitet. Junge Wissenschaftler haben deshalb eine Topographie des roten Terrors erarbeitet.

GORI/TIFLIS taz | Vor dem Rathaus auf dem zentralen Platz der 65.000-Einwohner-Stadt Gori ruhen sich einige Bewohner in einer Grünanlage ein wenig aus. Ein Mann kniet neben einer quadratischen Steinplatte. Bis vor kurzem ließ hier noch eine sechs Meter hohe bronzene Stalin-Statue ihren Blick gebieterisch in die Ferne schweifen. In den Morgenstunden des 25. Juni 2010 jedoch rückte ein Räumkommando mit Baggern und schwerem Gerät an und stürzte den Sohn der Stadt, der hier 1879 geboren wurde, unter dem Applaus einiger hundert Schaulustiger vom Sockel.

"Das war eine verrückte Idee. Wir sollten nicht die steinernen Denkmäler schleifen, sondern lieber die Denkmäler in uns selbst, die in unseren Köpfen", sagt David Jishkariani. Die Menschen in Gori hätten darüber entscheiden sollen, ob die Statue dort stehen bleiben soll. Doch sie seien nicht gefragt worden. "Diese Aktion hatte etwas Stalinistisches", sagt er.

Den 24-Jährigen, der gerade sein Geschichtsstudium mit einer Arbeit über die Massenrepressionen in Georgien in den Jahren 1937/38 abgeschlossen hat, treibt die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und der sowjetischen Vergangenheit seines Landes schon länger um. Im vergangenen Jahr gründete er unter der Leitung des Historikers Lasha Bakradze mit fünf gleichgesinnten jungen Wissenschaftlern die Nichtregierungsorganisation Soviet Past Research Laboratory, die die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte vorantreiben will.

Noch immer verehrt ein beträchtlicher Teil der älteren Generation den Generalissimo als bedeutenden Staatsmann, der - Millionen von Opfern zum Trotz - der Sowjetunion zu Ruhm und Ansehen verhalf. Die Jüngeren stehen Josef Stalin meistens negativ gegenüber oder wissen nur wenig über diese Zeit. "Für die einen hat Stalin vor allem Gutes getan, für die anderen war alles nur schlecht. Wir wollen den Menschen zeigen, was sich wirklich zugetragen hat", sagt David Jishkariani.

Der erste Versuch einer differenzierten Annäherung an die sowjetische Vergangenheit nennt sich "Topographie des roten Terrors in Tiflis". Schauplatz ist Sololaki, ein Viertel in der Altstadt, in dem früher besonders viele Vertreter der politischen Elite und des Geheimdienstes zu Hause waren.

Im Rahmen dieses Projekts, das die Heinrich-Böll-Stiftung und das Institut für Internationale Zusammenarbeit des Deutschen Volkshochschul-Verbandes mit 17.000 Euro unterstützen, erarbeiten Jishkariani und seine Kollegen einen speziellen Stadtplan: 20 Häuser sind darauf verzeichnet, in denen Täter, aber auch Opfer des Sowjetregimes wohnten und wirkten. Eins der Gebäude ist der ehemalige Sitz der südkaukasischen Abteilung der Geheimpolizei Tscheka in der heutigen Pavle-Ingorowka-Straße 22. Dort wurden ab den 20er Jahren Gefangene in Kellerverließen gefoltert und ermordet.

Um die entsprechenden Objekte fixieren zu können, waren umfangreiche Recherchen in den Archiven des georgischen Innenministeriums, des früheren KGB sowie des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei notwendig. Zudem wertete die Gruppe auch Zeitungsbestände in georgischen Bibliotheken aus und befragte bislang rund 40 Zeitzeugen. Besonders die Arbeiten mit Unterlagen aus den Archiven des sowjetischen Geheimdienstes gestalten sich schwierig: Ein Teil der Dokumente aus dem Tifliser KGB-Archiv wurde Anfang der 90er Jahre bei einem Brand vernichtet. Und zu den KGB-Archiven in Moskau haben georgische Staatsbürger derzeit keinen Zutritt.

Dennoch: Bis Ende des Jahres sollen die Topographie-Karte samt Website fertiggestellt sein. Die Exkursion an die Orte des Schreckens wird vor allem georgischen Schülern und Studenten, aber auch interessierten Bürgern und Touristen angeboten. Doch das Altstadtviertel Sololaki ist erst der Anfang. In einem nächsten Schritt sollen weitere Stadtteile von Tiflis erschlossen werden, danach ganz Georgien.

Doch auch noch ganz andere Initiativen schweben dem Soviet Past Research Laboratory vor. So hatte dessen Leiter Lasha Bakradze unlängst die Idee, in Gori neben dem Stalin-Museum, in dem der Geist der Sowjetunion immer noch mehr als gegenwärtig ist, ein weiteres Museum zu errichten. David Jishkariani ist von diesem Vorhaben angetan. "Wir brauchen dieses zweite Museum", sagt er. "Wir schämen uns unserer Geschichte nicht, aber wir müssen sie in Gänze verstehen."

Er persönlich hofft, noch mehr junge Menschen dafür zu gewinnen, sich intensiv für eine Aufarbeitung der Vergangenheit zu gewinnen und entsprechend dafür einzusetzen. Die Gesellschaft dürfe nicht passiv sein. "Wenn wir den Regierenden dieses Feld überlassen, so haben sie jeden Tag die Möglichkeit, wieder eine totalitäre Herrschaft aufzubauen", sagt er. "Und mit den heutigen technischen Möglichkeiten könnte so ein Regime noch grausamer sein als alles, was wir bisher kennen."

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