Die Zukunft der Musikkritik X: Eine Kunstform, die uns heilt

Kritik bedeutet auch der Musikerin viel. Wenn Musik kein Geld mehr einbringt, muss sie finanziell und intellektuell gefördert werden. Genau wie die Musikkritik.

Eine der circa 1.000 EinwohnerInnen der finnischen Insel Hailuoto: Antye Greie inmitten von Kiefern. Bild: promo

Persönlich habe ich für meine Musik schon die absurdesten Kritiken bekommen, von fieser Ignoranz über erbarmungsloses rhetorisches Gemeuchel bis hin zum feierlichen Abgesang. Und doch ist meine Nase plötzlich auf Titelseiten renommierter internationaler Musikmagazine aufgetaucht. Mein letztes Soloalbum, das am schlechtesten verkauft hat, wurde vom US-Magazin Signal To Noise etwa als "one of the richest electroacoustic CDs ever" eingeschätzt und von der Internetmusikpolizei Pitchfork mit immerhin 7,3 von zehn Punkten bedacht. In Deutschland wurde das Album hingegen kaum wahrgenommen.

Genau wie Musik ist auch Musikkritik im Stande, mein Herz zu entflammen. Inspiriert mich wiederum, selbst Musik zu komponieren. Was mehr zählt als meine persönliche Befindlichkeit ist aber, dass Musik als Kunstform wahrgenommen wird. Musik ist Kunst und muss als solche diskutiert werden, losgelöst von Industrie und Technologie. Auch wenn keiner mehr dafür bezahlt. Das bedeutet, Musik und zeitgenössische Kritik brauchen intellektuelle und finanzielle Förderung. Die, die die Kohle machen, müssen für den Content bezahlen, und sei es, dass sie dafür Stiftungen gründen, die spezifisch Musik, Sound Art und Kritik fördern. Die Kapitalisten müssen überzeugt werden, in das Richtige zu investieren. Ich bin erleichtert, dass die Internetseite Myspace an Relevanz verloren hat. Jetzt muss nur noch Facebook sterben! Meldet euch alle wieder ab!

Eine Ahnung von Freiheit

Ist Musik durch das Netz zum Volkseigentum geworden? Ist das wirklich Kommunismus? Und Freiheit? Freiheit für das Medium Musik? Für uns alle? Oder nur eine Ahnung davon? "Headphones connected to the iphone/connected to the google/connected to the government!" Singt die britisch-tamilische Musikerin M.I.A auf ihrem neuen Album. Ich füge hinzu "connected to the ear/to the brain/to the blood/to the heart".

Das neue M.I.A.-Album ist kompliziert, Konsensthema ist ihre Musik aber nicht mehr. Ich habe M.I.A. live in Helsinki auf einem Festival als Headlinerin gesehen und zum ersten Mal verstanden, warum Mädchen bei den Beatles geheult haben. Die M.I.A.-Show war kämpferisch, real, basslastig, zum Anfassen, lustig und knallbunt. POP in Großbuchstaben. Und bewegend, weil von einem Menschen gemacht, der sich weiter aus dem Fenster lehnt als andere. Ich habe an diesem Abend bei M.I.A. etwas gesehen, wonach ich mich so sehr gesehnt habe. Eine Frau (gepowert von fünf anderen, teils verschleierten Frauen) hat Riesenerfolg im knielangen Parker, macht die fettesten Beats und kommentiert mit ihrer Kunst die Realität. Sorry Boys, das werdet ihr jetzt nicht nachfühlen können! Danach habe ich mir die Fingerkuppen wundgegoogelt, konnte aber nur wenig brauchbare Rezensionen über das Konzert finden.

Besprechungen gefallen mir, wenn sie gut recherchiert sind. Punktewertungen und Daumen finde ich dagegen reine Zeitverschwendung. Wo ist der Diskurs, wenn man ihn braucht? Auch das Video zum M.I.A.-Song "Born Free" hat mich umgeblasen, aber ich konnte mit niemandem persönlich darüber reden, weil es keiner gesehen oder darüber gelesen hatte.

Das Musikbusiness ist ein siechender, faulender Industriezweig, und das ist ein Problem für die, die sich einen neuen Job suchen müssen. MusikkritikerInnen könnten vielleicht ein Auskommen finden, indem sie in Buchform schreiben, was ich toll finde: "Pink Noises" von Tara Rodgers und "Digital Magma" von Jean Yves LeLoup seien nur als Beispiele für anregende Lektüre genannt. Ich surfe auch gerne auf Boomkat, und es gibt Blogs, wie The Milk Factory oder Cokemachinglow, durch die ich gerne stöbere, aber sie ersetzen nicht das Reden über Musik.

Die taz-Debatte über die Zukunft der Musikkritik ist schon alleine deshalb wichtig, weil ich dadurch von neuen Gatekeepern erfahren habe. Darunter sind viele, die einfach nur Pressetexte posten (Beware your Pressetext!), aber es gibt zum Glück AutorenInnen, die sich mit der Materie Pop intensiv auseinandersetzen. Auswirkungen auf Popularität hat dies leider nicht. Wer keine Gedankentiefe will, sondern Ruhm, ist im Paradies der Copy-&-Paste-Welt richtig! Das erinnert mich an die Kinder von heute, die nicht mehr zwischen Animation und Spielfilm unterscheiden können. Wo erlernt man eigentlich, dass es zwischen Marketing und Inhalten einen gravierenden Unterschied gibt? Steht das auf dem Lehrplan? Oder wird es im Fernsehen erklärt?

Musikkritik ist männlich. Das war früher so und ist auch 2010 nicht anders. Über meine 20 Alben wurden circa 600 Rezensionen geschrieben. Fast ausschließlich verfasst von Männern. Liebe AutorInnen mit gesichertem Einkommen, reichem Erbe oder viel Freizeit, denkt, kritisiert und helft anderen, aus der schieren Masse die richtige Musik zu ziehen. Schreibt in Print und im Internet. Musik muss wieder einen größeren Stellenwert im Journalismus bekommen. Und, schreibt nicht so kompliziert, schreibt für alle!

Wenn wir uns keine Gedanken darüber machen, was wir essen, sehen und hören, dann werden wir weiterleiden. Wie sagte es der deutsche Rapper Chefket in seinem Track "Cool, easy, fresh": "Wenn du wissen willst, wie sehr Menschen leiden, dann schau ihnen beim Feiern zu."

Musik wie die seine muss gefördert werden, es ist eine Kunstform, die uns heilt. Und an die Wissenschaftler: Was, wenn das Fraunhofer-Institut ein komprimiertes Auto erfände, das mit Gedankenenergie fährt, sind wir dann die Feinde los? Und bekommen die Journalisten endlich wieder Jobs, weil wir uns mit ihren Gedanken bewegen? Worüber sollen wir dann singen? Und genau, Frauen, fangt an, euch für Musik zu interessieren, und schreibt darüber, from the bottom of the heart!

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