Zurück in den Atomstaat

ATOMKRAFT I Die neue Regierung in Tokio will den Ausstieg aus dem Ausstieg. Dennoch droht vielen japanischen Reaktoren das Aus

Zwei Drittel der Japaner sind für einen mittel- bis langfristigen Atomverzicht

AUS TOKIO MARTIN FRITZ

Das Wochenende vor dem zweiten Jahrestag der Fukushima-Katastrophe gehörte Japans Atomkraftgegnern. Zehntausende demonstrierten unter dem Motto „Null Atomkraft“ gegen die Absicht der neuen Regierung, an der Atomenergie festzuhalten. Der konservative Premierminister Shinzo Abe will die nach der Katastrophe vorsorglich stillgelegten Atommeiler wieder hochfahren und unter Umständen sogar neue bauen. Den Ausstieg bis 2040, von seinem Vorgänger Yoshihiko Noda geplant, soll es nicht geben.

Mit der Ankündigung der Neustarts will Abe auch die neue Atomaufsicht NRA unter Druck setzen. Die inzwischen selbstständige Behörde entscheidet darüber, welche Anforderungen die Reaktoren für die Wiederinbetriebnahme erfüllen müssen. Doch der Premier wird die Reaktivierung der Meiler wohl erst nach der Oberhauswahl im Juli forcieren. Denn Umfragen zufolge sind weiterhin über zwei Drittel der Japaner für einen mittel- bis langfristigen Atomverzicht.

Der Regierungschef begründet die Kurswende mit der Stärkung der Wirtschaft. Wegen der drastisch gestiegenen Importkosten für Öl und Gas als Ersatz für Atomstrom ist die Handelsbilanz der rohstoffarmen Nation ins Minus gerutscht. Die unsichere Stromversorgung beschleunige die Abwanderung der Industrie ins Ausland, lautet ein weiteres Argument. Ein heimliches Motiv der Konservativen ist zudem, dass die japanische Option auf eine eigene Atombombe gegenüber China glaubwürdig bleiben soll.

Seinen Pro-Atom-Kurs will Abe im langfristigen Energieplan verankern. Eine früher berufene Expertenkommission hatte sich nicht auf einen neuen Strommix einigen können. Das Industrieministerium hat das Gremium jetzt von 25 auf 15 Experten verkleinert und dabei die Zahl der Atomkraftkritiker von acht auf zwei reduziert. Das Gremium soll sich bis zum Jahresende einigen, ohne jedoch unbedingt einen festen Prozentsatz an Atomstrom festzulegen.

Trotzdem dürfte sich Japans Atomindustrie vom Fukushima-Tiefschlag womöglich nie mehr ganz erholen. Der Chef des französischen Atomkonzerns Areva, der Japan mit Uran beliefert, hält zwar den Neustart von sechs Reaktoren bis zum Jahresende für möglich. Aber der britische Energieberater Wood Mackenzie erwartet 2013 keine einzige Genehmigung mehr. Japan wäre so ab Herbst erneut atomstromfrei, da die zwei Reaktoren im AKW Oi, die als einzige von 50 Meilern arbeiten, dann zur regulären Wartung vom Netz gehen.

Die Reaktivierungen werden sich ab 2014 drei Jahre hinziehen, meint Analyst Nicholas Brown. Japans Kapazität für Atomstrom werde sich wegen des hohen Alters einiger Reaktoren und der verschärften Sicherheitsauflagen jedoch halbieren. Selbst Areva-Chef Luc Oursel rechnet nur mit einem Neustart von zwei Drittel der Meiler.

Ein gutes Beispiel bietet auch Tepco: Von den 17 Reaktoren bei Fukushima dürften nur fünf bis sieben wieder in Betrieb gehen. Zudem stehen zwei der sieben Meiler im westjapanischen Atomkomplex Kashiwazaki-Kariwa offenbar auf geologisch aktiven Bruchstellen. Die verschärften Sicherheitsnormen könnten hier zu einer Neubewertung führen.

Wegen der gestiegenen Sicherheitskosten wird sich die Industrie auch den Neubau von Reaktoren gut überlegen, zumal sich inzwischen eine relativ preisgünstige Alternative abzeichnet: der Import von Schiefergas aus Kanada und den USA.