Ruandisches Tagebuch Folge 2: Dieses kranke Land

Immer wieder Schreie und Zusammenbrüche. Ich habe Gänsehaut. Was haben diese Frauen auszuhalten! Die Mörder sind alle noch hier.

Sie spielten den Genozid nach: die beiden Kinderstars der Gedenkfeier in Kigali. Bild: Marie-Claude Bianco

Montag 7. April. Für die zentrale Gedenkfeier zum Völkermord in Ruanda vor 20 Jahren bin ich im Amahoro-Stadion in Kigali. Über 200 Pressevertreter, Sicherheitsalarm, sogar unsere Telefone müssen wir abgeben. Gestern hat die französische Delegation abgesagt, daraufhin wurde der französische Botschafter wieder ausgeladen.

Die Militärkapelle spielt, das Stadion ist randvoll. Wer weiß, nach welchen Kriterien die „normalen“ Ruander gecastet worden sind, die die Ränge füllen. Hier im Stadion sind die Überlebenden das Thema, aber es ist keiner da, so scheint es. Sie sind unsichtbar. Die allermeisten in diesem kranken Land wollen auch, dass das so bleibt.

Und all diese Staatsgäste: Heute sind sie da, halten eine Rede nach der anderen und lassen sich beklatschen. Hoffentlich schämen sie sich wenigstens. Die Franzosen kriegen nicht mal das hin.

Ich sehe, wie die Kwibuka-FackelträgerInnen und Kinder in den Backstage-Bereich kommen, und gehe hinter ihnen her. Es gibt ein großes Hallo. Für die Kinder bin ich eine spektakuläre Erscheinung. Nicht nur als Muzungu, auch weil ich mit meinen kurzgeschorenen Haaren dieselbe Schulkindfrisur trage wie sie.

Das Tattoo auf meinem Arm fasziniert sie aber am allermeisten. In Scharen hängen sie um mich herum, lassen sich zum Teil voller Stolz, teilweise aber auch verlegen fotografieren. Manche versuchen, mein Tattoo abzurubbeln und lachen sich dabei schief. Die Zeit vergeht wie im Flug. Schließlich kommt eine Frau, trommelt die Jungs zusammen, da sie sich auf ihren Auftritt vorbereiten müssen.

Das Lachen und Rumalbern tut mir gut. Soviel Frohsinn an diesem schweren Ort, dieser traurigen Veranstaltung - das gibt mir die Kraft, wieder zurück in das Stadion zu gehen und den Reden und Feierlichkeiten beizuwohnen.

Diese Menschen sind die gleichen wie damals

Im Publikum brechen immer wieder einzelne Menschen schreiend zusammen, werden vom Sicherheitsdienst rausgeführt oder getragen. Es gibt mehrere Räume mit Matratzen und Decken, damit die Leute sich dort fangen können.

20 Jahre ist das Morden jetzt her. Es ist wie gestern. Diese Menschen sind die gleichen wie damals. Falls hier doch Überlebende sein sollten, müssen sie extrem stark sein. Immer wieder Schreie und Zusammenbrüche. Ich habe Gänsehaut. Was haben diese Frauen auszuhalten!

Zwischendurch muss ich immer wieder weinen. Diese Schreie sind verzweifelter Schmerz. Ich verstehe gar nicht, dass nicht alle durchdrehen. Doch das ist wohl der Tatsache geschuldet, dass das Publikum gut ausgewählt worden ist. Ruanda erfindet sich in Kigali neu, die Macher sind die Uganda-Ruander, aber 95 Prozent der Ruander leben auf dem Land und 95 Prozent sind Täterangehörige.

Ban Ki Moon traut sich tatsächlich, eine endlose Rede zu halten. Von wegen schämen. Die Zeremonien und Gesänge, die Beschwörung des „Spirit of Rwanda“ berührt mich sehr. All die Süßen, die ich vorhin fotografiert habe, sind auf der Bühne – der wichtigste Part. Sie spielen tatsächlich die Geschichte des Genozids nach. Vorher, während und danach.

Ein paar Weiße kommen ins Stadion gefahren, die Blauhelme. Die Kwibuka-FackelträgerInnen sind die Tutsi, liegen schließlich als Ermordete auf der Stadionwiese. Die Blauhelme fahren wieder weg. Soldaten stürmen herein, sie sind die RPF. Jeder hebt einen „Toten“ auf.

Die Hoffnung stirbt zuletzt.

13 Uhr 10. Paul Kagame, der ruandische Präsident, spricht. Er ist alt geworden, der Bart grau. Ohne ihn gäbe es Ruanda nicht mehr. Nach ihm, was wird wohl kommen? Zur nächsten Wahl 2017 kann und will er nicht mehr antreten. Erinnern sei Bürgerpflicht, sagt er. Man muss nach vorne schauen, weiter machen. Das sehe ich schon ein.

Er hält seine Rede zweisprachig. Kinyarwanda für die, die Bescheid wissen. Englisch für die unwissenden Staatsgäste und Journalisten aus aller Welt. Er sagt, vor zwanzig Jahren hatten wir keine Zukunft, nur Vergangenheit. Heute, zwanzig Jahre nach dem Genozid, haben wir auch eine Zukunft.

Es wird wieder geschehen

Ich sage mir: Ja. Und man muss ganz fest daran glauben. Doch es wird nicht funktionieren, befürchte ich. Ein „Nie-Wieder“ wird es nie geben. Es wird wieder geschehen.

Traumata können sogar die Gene verändern. Hier werden ständig Kinder mit posttraumatischen Belastungsstörungen geboren, weil ihre Eltern kaputte Seelen sind. Im Grund muss man nur warten, denn dass es wiederkommt, das Morden, ist nur eine Frage der Zeit, glaube ich. Der ganze Fortschritt, den es tatsächlich gibt, wird von der Geburtenrate aufgefressen.

Die Mörder sind alle noch hier, viele warten nur darauf, ihre Arbeit zu Ende zu bringen. Fast alle, die im Gefängnis sitzen, sagen, dass sie unschuldig sind. Hier redet keiner offen. Noch nie. Das ist in der ruandischen Kultur nicht angelegt. Niemand traut irgendwem.

Dieses Land ist ein verlorenes Land. Kagame macht alles richtig und hat dennoch keine Chance. Vielleicht ist es ein Glück, dass die Hälfte aller Ruander jünger als 20 ist. Vielleicht gibt es doch sowas wie Hoffnung – und die Extremisten sterben einfach nach und nach weg.

***

Rückschau: der 7. April 1994

Überall in Kigali wird geschossen, schon lange vor dem Morgengrauen. Die Milizionäre und Soldaten jagen systematisch jeden, der Stellung gegen die Hutu-Extremisten um Oberst Bagosora beziehen könnte: Oppositionspolitiker. Bürgerrechtler, Journalisten, Zivilgesellschaftler. Wen sie aufspüren, töten sie. Viele versuchen, unterzutauchen. Die Minister und Führer der Regierungspartei MRND hingegen werden von den Soldaten in Sicherheit gebracht oder geschützt.

Um 5 Uhr 30 kommen UN-Soldaten zu Premierministerin Agathe Uwilingiyimana, um sie abzuholen und zum Staatsrundfunk zu bringen, damit sie sich an das Volk wenden kann. Uwilingiyimana steht für das Friedensabkommen mit den Tutsi-Rebellen. Soldaten der ruandischen Armee, die das Haus bereits umstellen, verhindern das. 5 UN-Soldaten aus Ghana und 10 aus Belgien werden gefangengenommen und verschleppt.

Die Ghanaer werden später freigelassen, die Belgier in einem Armeelager erschossen. Die Premierministerin, die sich in ein Nachbarhaus gerettet hatte, wird schließlich aufgespürt und gegen 11 Uhr umgebracht; ihre Leiche wird bestialisch geschändet.

Getötet werden auch zwei Politiker ziviler Oppositionsparteien, die als Parlamentspräsidenten in Frage kommen und damit das Amt des Übergangspräsidenten ausfüllen könnten: Félicien Ngango (PSD) und Landoald Ndasingwa (PL). Ebenso der Präsident des Verfassungsgerichts. Bis zum Mittag sind alle Oppositionspolitiker in Kigali entweder tot oder haben sich zur UN geflüchtet.

Die Militärs um Oberst Bagosora treffen sich erneut gegen 10 Uhr und beraten über eine Regierungsbildung. Bagosora veröffentlicht am Nachmittag eine Presseerklärung, in der er Ruandas Armee aufruft, "die Ordnung wiederherzustellen".

Die Tutsi-Guerilla RPF (Ruandische Patriotische Front), die gemäß des Friedensabkommens ein Kontingent in Kigali stationiert hat und ansonsten im Norden Ruandas hinter einer Waffenstillstandslinie steht, reagiert mit einem Forderungskatalog ihres Führers Paul Kagame: Die UNO müsse die Ordnung wiederherstellen und für die Umsetzung des Arusha-Abkommens sorgen. Die RPF stehe bereit, dabei zu helfen. Sollten die Massaker weitergehen, werde sie allerdings selbst nicht untätig bleiben. Es gibt bereits Schusswechsel an der RPF-Basis in Kigali zwischen RPF-Soldaten und Präsidialgardisten.

UN-Kommandeur Dallaire reagiert mit dem Hinweis: Sollten RPF-Soldaten ihre Basis in Kigali verlassen, wäre dies ein Bruch des Waffenstillstands und die UN-Blauhelme müssten dagegen eingreifen. Die Massaker zählen offenbar nicht als Bruch des Waffenstillstands, gegen den einzugreifen wäre.

UN-Soldaten aus Bangladesch - das größte UN-Kontingent in Ruanda - weigern sich, Bedrohten zu helfen, die zu Tausenden Schutz in UN-Einrichtungen suchen.

Dallaire nimmt am Abend Kontakt mit der Peacekeeping-Abteilung der UN in New York auf, geleitet von Kofi Annan. Er weist darauf hin, dass alle friedensliebenden Kräfte in Kigali Schutz bei der UNO suchen, und schlägt vor, die UN-Mission in Ruanda solle die moderaten Kräfte öffentlich unterstützen und zusammen mit ihnen das Arusha-Abkommen retten.

Annans Antwort ist negativ: die moderaten Kräfte müssen den ersten Schritt tun. Die UNO darf nicht Partei ergreifen und keinen Schutz anbieten.

In seinen Memoiren schreibt Dallaire: Dies war der Tag, an dem alles verloren wurde. (D.J.)

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