Alternative Ökonomie
: Leben und Arbeiten

Bis in die 70er-Jahre zielte die Stadtplanung darauf, Wohnen und Arbeiten zu entkoppeln. So entstanden Schlafstädte wie das Märkische Viertel und reine Industriegebiete. Hausbesetzer wollten hingegen Leben und Arbeiten im Stadtteil vereinen.

Das Erdgeschoss vieler besetzter Häuser stand ebenfalls leer. Schon bald eröffneten die BesetzerInnen Nachbarschaftscafés oder Kneipen wie das „Besetzereck“ am Heinrichplatz. Manche wie die „Milchbar“ in der Manteuffelstraße 40–41 gibt es noch heute. Andere wie das „Pinox“ in der Oranienstraße 45 waren mal Stadtteilcafé, mal professionelle Kneipe. Heute gibt es dort das „Sunugaal“, den Treffpunkt der senegalesischen Einwanderercommunity.

Geblieben ist auch ein breites Angebot an alternativen und autonomen Clubs, Kneipen, Theatern und Veranstaltungsorten. Den besten Überblick verschafft der Stressfaktor, der „Terminkalender für linke Subkultur und Politik“. Im Netz unter www.stressfaktor.squat.net.

Ende der 70er-Jahre wurden leere Fabriketagen wie in der Waldemarstraße 33 als Konzertsäle genutzt, aus dem dortigen Punkschuppen „KZ 36“ entwickelte sich das heutige „SO 36“. Auch in den besetzten Häusern im Osten entstanden Veranstaltungsetagen, etwa in der Kinzigstraße 9. In manchen instand gesetzten Häusern wird heute in den Etagen nicht nur gewohnt, sondern auch Sport betrieben und Theater gespielt. Und im Keller wurde der alte Traum vom Leben ohne Zwischenhändler in einer Food-Coop verwirklicht.

Besonders viele Hausbesetzer hofften auf die Kraft der Buchstaben. So ging aus dem einstigem KuKuCK in der Anhalter Straße 7 der heutige „Gemischtwarenladen für Revolutionsbedarf“ in der Manteuffelstraße hervor. In der Kastanienallee 84/85 befindet sich inzwischen eine Filiale des politischen Buchladens „Schwarze Risse“, im Hinterhaus kann man beim „Dreigroschendruck“ seine Bücher billig drucken lassen. Und wer einen Originaltext von Rosa Luxemburg oder eine Radikal von 1981 sucht, wird im „Antiquariat“ in der Oranienstraße 45 schnell fündig.

Der wirtschaftlich wichtigste ökonomische Zweig der Hausbesetzer war die bauliche Selbsthilfe. Millionen von Fördergeldern flossen in die maroden Häuser und brachten für Hunderte Lohn und Brot. Doch nach der Sanierung des eigenen Hauses waren die meisten Baukollektive auf dem Markt nicht konkurrenzfähig. Dagegen schafften es einige der aus der Besetzerbewegung hervorgegangenen Architekten, sich in der harten kapitalistischen Realität zu behaupten.

Bei der Hausbesetzerbewegung im Osten durfte der KGB nicht fehlen – die „Kohlen, Gips und Bier Vertriebs-GmbH“ am Markgrafendamm baute unter anderem der Hausbesetzer und heutige Abgeordnete der Linkspartei.PDS Freke Over mit auf. Die Reste des Getränkelieferanten residieren heute in der Krossener Straße 23.

Dem Traum vieler Besetzer am nächsten kommt immer noch das „Kerngehäuse“ in der Kreuzberger Cuvrystraße. Insgesamt 24 Firmen präsentieren sich auf der Website, die wirtschaftlichen Aktivitäten reichen von Tischlereien, der Sprachschule „Babylonia“ und Theater über Energiefirmen bis hin zur Werkstatt von fünf Taxikollektiven. Doch inzwischen entschieden sich manche MitarbeiterInnen entweder für Wohnen oder Arbeiten – beides unter einem Dach ist dann doch zu viel. CHV