Schienenverkehr in Europa: Größenwahn statt Bürgerbahn

Die Eisenbahnpolitik setzt auf Prestige-Projekte. Dabei könnte mit wenig Geld viel für den grenzüberschreitenden Verkehr erreicht werden.

Eine ur-europäische Erfindung: die Eisenbahn. Bild: imago/Paul Marriott

BERLIN taz | Sie wurde in Europa erfunden, und sie erfreut sich dort größerer Beliebtheit als anderswo: die Eisenbahn. Aber ein einheitliches Eisenbahnnetz hat auch Europa nicht. Zu groß sind historisch gewachsene Unterschiede bei den Spurweiten, bei der Stromversorgung der Lokomotiven oder bei der Sicherungstechnik. Und auch die grenzübergreifenden Strecken lassen zu wünschen übrig.

Dabei arbeitet die EU durchaus an beiden Problemen. In der Technik versucht sie Standards zu setzen, und sie fördert den Aus- und Neubau internationaler Bahnverbindungen. Allerdings setzt sie dabei falsche Prioritäten: Statt günstig kleine Engpässe im Grenzverkehr zu beseitigen, steckt sie Geld in teure Prestigeprojekte wie die bis zu 40 Milliarden Euro teure Hochgeschwindigkeitsstrecke von Lyon nach Turin durch die Alpen. Treiber sind die Mitgliedstaaten, die auf möglichst viel EU-Förderung für Großprojekte hoffen, die der Unterstützung heimischer Baufirmen oder der Regionalentwicklung dienen.

Dänemark beispielsweise drängt mit aller Macht auf die milliardenteure und ökologisch bedenkliche Fehmarnbelt-Querung. Denn mit ihr rückt der Großraum Kopenhagen enger an Hamburg, Nordrhein-Westfalen und die Niederlande heran. Die Alternative für eine europäische Nord-Süd-Route – eine bessere Anbindung der Fähre von Gedser nach Rostock – blockiert Kopenhagen. Die EU ist machtlos, gegen den Willen eines Mitgliedslandes kann sie keine Verkehrsverbindung durchsetzen.

Verteilt werden die Brüsseler Mittel entlang der sogenannten transeuropäischen Netze, bei denen die EU neun Korridore definiert hat: Nationale Projekte innerhalb dieser Korridore können kofinanziert werden. Und die Korridore sind so gestrickt, dass für jedes EU-Land etwas dabei ist – selbst Malta kann auf bessere Fährverbindungen nach Palermo und Taranto hoffen. Und Österreich bekommt im Rahmen des baltisch-adriatischen Korridors den Ausbau der Verbindung von Graz nach Klagenfurt durch die Alpen gefördert, deren Kernstück der 32,9 Kilometer lange Koralmtunnel ist. Dabei würden vernünftige Verkehrsplaner das Gebirge über Maribor und Ljubljana in Slowenien einfach umfahren.

Nicht genug Geld

Auch Deutschland nutzt das transeuropäische Programm für zweifelhafte Projekte. So ist die Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm im Rahmen des umstrittenen Tiefbahnhofs Stuttgart 21 Teil des Rhein-Donau-Korridors und soll mit EU-Mitteln gefördert werden. Die Hochgeschwindigkeitstrasse von Nürnberg nach Erfurt gehört zum skandinavisch-mediterranen Korridor, der zwar Fährverbindungen zwischen Finnland und Schweden fördert, wegen der Fehmarnbeltquerung nicht aber die zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Südschweden.

Der verkehrspolitisch sinnvolle Ausbau der Bahnstrecken von Genua nach Rotterdam und Antwerpen, die den Rhein-Alpen-Korridor bilden und die großen Seehäfen mit den Industriezentren in Norditalien, Süd- und Westdeutschland, Belgien und den Niederlanden verbinden, wiederum stockt – weil Deutschland nicht genug Geld zur Verfügung stellt. Und weil Anwohner im Rheintal gegen den zunehmenden Schienenlärm mobilmachten, etwa im badischen Offenburg. Nach langen Verhandlungen deutet sich nun eine Tunnellösung an, die für die Anwohner akzeptabler ist als eine zwölf Kilometer lange Lärmschutzmauer durch die Stadt.

Europäischer Mehrwert

Der Grünen-EU-Abgeordnete Michael Cramer kritisiert diese Politik. „Die meisten Projekte haben nichts mit Verkehrspolitik zu tun, sondern sollen den Firmen, zum Beispiel Tunnelbohrern, lukrative Aufträge verschaffen.“ Dies müsse beendet werden. „Der europäische Mehrwert muss Vorrang bekommen.“ Viele grenzüberschreitende Bahnverbindungen, die durch den Krieg oder die Ost-West-Teilung zerstört wurden, könnten relativ günstig wieder hergestellt werden. „Davon hätten die Bürger wirklich etwas.“ Cramer hat etliche kaputte Strecken untersucht und empfiehlt 15 Projekte für das Zusammenwachsen Europas auf der Schiene. Motto: „Schnelle Verbindungen für alle statt sinnloser Großprojekte in Jahrzehnten.“

Seine Favoriten: die Strecke von Ducherow am Stettiner Haff nach Swinemünde über die zerstörte Karniner Brücke, auf der man deutlich schneller von Berlin an die Ostsee käme. Oder das drei Kilometer kurze Stück von Nova Gorica in Slowenien nach Gorizia Centrale in Italien, auf dem es derzeit keinen Personenverkehr gibt. Strecken im spanisch-französichem Grenzgebiet in den Pyrenäen, zwischen Belgien und Frankreich, Ungarn und Rumänien oder Tschechien und Österreich.

Einen Lückenschluss schafft Europa aber in diesem Jahr: Zwischen dem sächsischen Sebnitz und dem nordböhmischen Dolni Poustevna werden Anfang Juli 660 Meter Gleis wieder in Betrieb genommen, die seit 1945 brach lagen. Brüssel sei Dank.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.