Finnlands Schriftsteller: Ein besonderes Verhältnis von Nähe

Entschleunigte Blicke auf Mensch und Geschichte: Zu Besuch bei den finnischen Schriftstellern Ulla-Lena Lundberg und Kjell Westö.

Ulla-Lena Lundberg auf der Insel Kökar. Bild: Holm Weber

Ulla-Lena Lundberg kann tagelang über die Geschichte der Insel Kökar erzählen. Über Wikinger, Piraten, Franziskaner und Wasserquellen. Die Schriftstellerin wurde auf dem rauen Eiland zwischen Stockholm und Helsinki 1947 geboren. Auch heute leben nur 245 Menschen ganzjährig auf Kökar. Die 64 Quadratkilometer große Schäre gehört zu dem mehrere tausend Inseln umfassenden Archipel Ålands, das mitten in der Ostsee zwischen dem finnischen Helsinki und dem schwedischen Stockholm liegt.

Auf den Ålands spricht man Schwedisch, die etwas mehr als 28.000 Einwohner und die 6.700 Inseln (gezählt sind hier nur die größeren mit mehr als 2.000 Quadratmetern Fläche) gehören aber zum finnischen Staat. Sie sind mit weitreichender Autonomie ausgestattet und genießen den Sonderstatus einer demilitarisierten Zone. Auf Kökar, einer Tagesschifffahrt von der finnischen Hauptstadt Helsinki und zwei Stunden von der Hauptinsel mit der Hauptstadt Mariehamn entfernt, verbrachte Ulla-Lena Lundberg die ersten Jahre ihrer Kindheit.

Und hier spielt auch ihr Roman „Eis“, eine teilweise biografische Erzählung, die diesen Herbst zur Frankfurter Buchmesse auf Deutsch erscheint. Mit „Eis“ gewann Ulla-Lena Lundberg vor zwei Jahren den Finlandia-Preis, den wichtigsten finnischen Literaturpreis. In Finnland verkaufte sich ihr Roman 130.000-mal, ein Bestseller bei 5,4 Millionen Einwohnern. Dabei wirkt sie alles andere als handsome oder besonders konsumententauglich. Eher etwas eigenwillig und verschroben. Ihre glanzvollsten Tage lägen bereits hinter ihr, sagt sie und fügt lachend hinzu, diese hätten in der Ära der Schreibmaschine gelegen.

Behände klettert die Autorin zwischen den Felsen auf der Schäreninsel hin und her. Sie zeigt auf dies, lauscht auf das. War das eine Nachtigall? Und wenn ja, welche? Über dem blauen Pullover trägt sie eine offene Blümchenbluse, an den Füßen dunkle Nokiagummistiefel. Bewaffnet ist die passionierte Vogel- und Pflanzenkundlerin mit einem Fernglas der Marke Swarovski, das unübersehbar an ihrem Hals baumelt.

Versiegte Wasserquelle

Nach der eingehenden Besichtigung der Kirche auf Kökar, der Vater war Priester und stand der evangelischen Gemeinde einst vor, deutet sie mit dem Arm auf eine Stelle, die irgendwo zwischen den vielen abgerundeten Felsen liegt, im Hintergrund das im Sonnenlicht blau-silbrig glitzernde Band der See. Hier an der Westküste der Insel habe sich zwischen den Steinen eine nie versiegende Wasserquelle befunden. Bis irgendein, sie sagt auf Englisch „idiot“, diese durch sein ungestümes Graben in jüngster Zeit zerstörte und zum Versiegen brachte.

Jetzt sammelt sich dort nur noch Brackwasser und im Sommer trockne die Stelle ganz aus. Dabei hätten schon die Afrikaner gewusst, schüttelt Ulla-Lena Lundberg den Kopf, dass man einer Quelle nie den letzten Tropfen abgraben dürfe. Ohne diese Süßwasserquelle hätten weder Wikinger, Piraten noch Franziskaner an dieser Stelle der Insel Gefallen gefunden und hier gesiedelt. Die Franziskaner mindestens schon im 13. Jahrhundert. Und ohne die früheren Ordensleute wäre an dieser exponierten Stelle der Insel wohl später kaum eine Kirche errichtet worden.

Und ohne diese wiederum hätten Ulla-Lenas Leben und das ihrer Familie einen sicherlich ganz anderen als in „Eis“ geschilderten, tragischen Verlauf genommen. „Wer einmal die Veränderung in einer Landschaft gesehen hat, sobald ein Schiff ins Blickfeld kommt, wird sich nie mit der Behauptung einverstanden erklären können, dass ein einzelnes Menschenleben ohne Bedeutung sei.“ Mit diesem Satz beginnt Ulla-Lena Lundbergs besonderer Finnland-schwedischer Heimatroman.

Die besondere Nähe zu den Lesern

In wenigen Worten enthält er bereits viel von ihrem Programm: die Natur, das Individuum, die Bewegung, die Veränderung, der Widerspruch und die Verbundenheit dieser Elemente im Geiste eines protestantisch geprägten Humanismus. Bei einem Gespräch in Helsinki kennzeichnete Stefan Moster, seines Zeichens eingewanderter deutscher Schriftsteller, Übersetzer und Experte für finnische Literatur, die Besonderheiten finnischer Autoren und ihrer Leser mit einem besonderen Näheverhältnis.

Der finnische Leser sei in der jeweiligen Literatur mit seiner eigenen Erfahrung immer schon mit drin: Ob in der Großstadt, am Tisch oder am Lagefeuer. Es gibt nur Helsinki, und die Grundlage der Erzählungen sind zumeist ähnlich. Und dennoch verschieden. „Ich interessiere mich für die Menschen und deren Psychologie“, sagt Kjell Westö. Eine Generation nach Ulla-Lena Lundberg im Jahre 1961 geboren, zählt Kjell Westö zu den bekanntesten Finnland-schwedischen Autoren.

Kjell Westö vor seinem Saunahäuschen bei Turku. Bild: Holm Weber

Er lebt in Helsinki und in den Zwischenjahreszeiten auf einer der letzten mit dem Festland durch Brücken (und schwimmenden Brücken in Gestalt kleiner gelber Autofähren) verbundenen Inseln vor Turku. Sie zählt noch nicht zum Åland-Archipel. Er träume auf Schwedisch, Finnisch oder Englisch, wie er sagt, und gehe erst bei 27 Grad ins Wasser. Also nie. Das Problem von Leuten wie den „Wahren Finnen“ – die finnischen Rechtspopulisten holten bei den EU-Wahlen gerade 12,8 Prozent der Stimmen, deutlich weniger als befürchtet – könne er nicht verstehen.

Mehrere Sprachen zu sprechen sei etwas Schönes. Niemand müsse sich davon bedroht fühlen, auch wenn die Geschichte Finnlands mit Schweden und Russland wechselhaft gewesen sei. Und gerade mit Russland, wie Kjell Westö – „Ich bin nicht russophob!“ – betont, das immer für eine Überraschung gut sei, wie sich aktuell bei Ukraine- und Krimkrise zeige. Westö ist ebenso wie Ulla-Lena Lundberg Finlandia-Preisträger, hat Respekt vor seiner älteren Kollegin und schätzt wie sie, zumindest einige Monate im Jahr, Natur und Einsiedelei.

Minitisch und harte Holzstühle

Fließend Wasser hat er in seinem Sommerhäuschen auf der Insel bei Turku nicht. Seine Schriftstellerklause an der Sauna ist spartanisch eingerichtet. Ein Minitisch zum Schreiben, zwei unbequem aussehende harte Holzstühle, kein Wunder, dass ihm in den vergangenen Monaten erstmals der Rücken zu schaffen machte. Er wirkt zurückhaltend, aber offen, humorvoll und klar. Seine schriftstellerische Karriere begann er als Sportkolumnist. Fußball liebt er bis heute. Ein Sohn versuchte sein Glück bei Werder Bremen, wollte in der deutschen Bundesliga Fuß fassen.

Hat fast geklappt. Und wenn er einen Wunsch frei hätte, dann den: „Finnland soll mal bei der WM mitspielen.“ Er sitzt im Kapuzenpulli auf einem glattpolierten Felsen vor seiner Saunahütte und lässt sich geduldig ausfragen. Ja, er mag Musik, Bob Dylan und spielt in Helsinki mit Freunden in einer Band. Im Sommer meide er die Insel bei Turku, da sei es ihm hier zu laut. Schwer vorstellbar: Bei der Fahrt über die Insel zeigten sich in der schon lange anhaltenden nordischen Sommerdämmerung vor allem Hirsche. In sehr großen Abständen Holzhäuschen, landesüblich rot gestrichen, vereinzelt auch Bauernhöfe. Selten, sehr selten, andere Fahrzeuge.

Im September wird Kjell Westös sechstes Buch auf Deutsch erscheinen. Sein Roman „Das Trugbild“ taucht tief in die finnische Geschichte, in die Zeit nach Bürgerkrieg und vor Zweitem Weltkrieg und die Perspektive der Minderheiten in Helsinki. „Finnland war früher, als ich klein war, noch ein geschlossenes Land“, sagt Westö. Wie geschlossen, statisch und aus historischen Gründen gespalten, davon erzählt „Das Trugbild“. Von einer Frau, die als Gefangene missbraucht wurde, von Finnland-Schweden, die in Klassenschranken noch stärker als in ihrer Minderheitenherkunft gefangen waren, und Wettkämpfen, die in vorauseilendem Gehorsam vor Nazideutschland manipuliert wurden, auf dass kein Jude später die arischen Spiele in Berlin stören sollte.

Finnland wird im Oktober Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse sein. 130 Bücher aus Finnland sollen allein 2014 ins Deutsche übersetzt werden, davon rund ein Viertel aus dem Schwedischen.

Ulla Lena Lundberg „Eis“, erscheint am 5. August 2014 im mare Verlag, Hamburg, übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig, 24 Euro

Kjell Westö „Das Trugbild“, erscheint am 1.September 2014 im btb Verlag, München, übersetzt von Paul Berf, 19,99 Euro

Kjell Westös Erzählung ist eine städtische und die ganze Gesellschaft umspannende Historie, ein Gegenstück zu Ulla-Lena Lundbergs Mikrogeschichte von der ländlichen Abgeschiedenheit auf Kökar. Doch bei aller Unterschiedlichkeit sind beide von einem ruhigen und tiefen Erzählmodus getragen, einem entschleunigten Blick auf Mensch und Geschichte, wie er für die finnische Literatur und ihre Protagonisten wohl typisch ist.

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