Urteil zu Afghanen in der Schweiz: Flüchtlings-Lotterie vor Gericht

Der EGMR hat der Schweiz untersagt, Afghanen in ihr Ersteinreiseland Italien abzuschieben. Deutsche Gerichte urteilen ähnlich – aber nicht immer.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Bild: dpa

ROM taz | Eine über Italien in die Schweiz eingereiste afghanische Familie darf nicht ins Ersteinreiseland zurückgeschoben werden, um dort die Asylanträge zu stellen. Am Dienstag erließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dieses Urteil, das die europäische Flüchtlingspolitik in Frage stellen könnte.

Die Schweiz hatte argumentiert, Italien als EU-Ersteinreiseland sei zuständig fürs Asylverfahren. Doch die Straßburger Richter sahen angesichts der katastrophalen Aufnahmebedingungen in Italien die Gefahr, dass dort gegen Menschenrechte der Flüchtlinge verstoßen werde.

Ähnlich urteilen seit mehreren Jahren auch zahlreiche deutsche Verwaltungsgerichte (VG). So befand im Jahr 2010 das VG Darmstadt im Fall eines Somaliers, es bestünden „berechtigte Zweifel“, ob Italien die Gewähr dafür biete, dass der Flüchtling dort „nicht von individueller Gefährdung bedroht“ ist. Explizit nennt das Urteil die „humanitäre, wirtschaftliche und Wohnungssituation“ der Flüchtlinge.

Die ist in der Tat oft katastrophal. Viele Antragsteller – und erst recht die große Zahl derer, denen Asyl oder humanitärer Schutz gewährt wurde – leben auf der Straße. In Rom hausen mehr als tausend Flüchtlinge im „Hotel Salam“, einem früheren Verwaltungsgebäude ohne Strom, Wasser und Heizung. Zugang zum staatlichen Gesundheitsdienst bekommt nur, wer einen festen Wohnsitz vorweisen kann – für Obdachlose oder Hausbesetzer ist das unmöglich.

Obdachlose Asylsuchende

Nicht bloß die Darmstädter Richter kamen deshalb zur Einschätzung, in Italien seien selbst elementarste Menschenrechte der Flüchtlinge nicht gesichert. „Völlig überlastet“ seien die Aufnahmekapazitäten in Italien, „so dass die große Mehrheit der Asylsuchenden ohne Obdach und ohne gesicherten Zugang zu Nahrung leben muss“, befand das VG Köln im Januar 2011.

Seitdem hat sich nichts geändert – nur die Liste der deutschen Verwaltungsgerichte, die Rückführungen ablehnen, wurde immer länger. Immer wieder bekamen die Flüchtlinge recht und durften in Deutschland bleiben, obwohl das eigentlich dem so genannten europäischen Dublin-II-Abkommen widerspricht.

Vorerst sind das Einzelfallentscheidungen – anders als im Fall Griechenland folgte bisher keine Anordnung der Bundesregierung, auf die Rückführung von Flüchtlingen Richtung Italien generell zu verzichten. Und so kann es auch passieren, dass sie zurückgeschickt werden, wenn sie das Pech hatten, vor dem „falschen“ Gericht gelandet zu sein.

Zum Beispiel vor dem VG Osnabrück. Das wies im September den Antrag von fünf Somaliern ab, in Deutschland ihren Asylantrag zu stellen. „Systemische Mängel“ seien im italienischen Asylverfahren nicht zu erblicken, bloß „punktuell“ gehe manchmal etwas schief, meinten die Richter. Auch das Fehlen von Sozialleistungen für Flüchtlinge stehe der Rückführung nicht entgegen. Die fünf Somalier können in Berufung gehen. Ihre Erfolgsaussichten dürften durch das Urteil in Straßburg steigen.

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