100 Jahre Berliner Volksbühne: Wo ist die Szene über den Tod?

Die Berliner Volksbühne wird 100. Mit Filmen von Thomas Heise und einer Revue von Jürgen Kuttner reflektiert sie ihre großartige Geschichte.

Filmstill aus Thomas Heises „Fabrik“, Keller der Volksbühne. Bild: Thomas Heise

Es war in einer Probe von „Baumeister Solness“ in diesem Jahr. Der Filmregisseur Thomas Heise schaute Frank Castorf über die Schulter, groß und in Schwarz-Weiß wird das jetzt auf die Bühnen füllende Leinwand projiziert. Castorf wirft Marc Hosemann und Kathrin Angerer Sätze zu, die spontan erfunden zu sein scheinen, um eine groteske Situation – sie liegen auf gestapelten Henry-Hübchen-Puppen – immer weiterzutreiben und in den skurrilen Stellungen der Körper etwas vom Sinn der ganzen Veranstaltung zu finden.

Komisch ist das allemal, aber auch erhellend? Was das soll, da kommt man zwar nicht dahinter, und trotzdem spürt man, wie hier das Theater über sich selbst nachdenkt und darüber, wie sich ausgetretene Wege vermeiden lassen.

Dann wird es traurig. Noch immer sieht man auf Castorfs Hinterkopf und Schultern, da redet der, so in vernuschelten Nebensätzen, vom Ende der Volksbühne (sein Intendantenvertrag endet 2016, was danach mit dem Haus passiert, ist unklar) und dass er sterben wird.

Die Regisseure, die fehlen

Die Revue läuft am 17./31. Dezember wieder, „Fabrik“ den ganzen Dezember über, jeweils eine Stunde vor Vorstellungsbeginn. Am 30. 12. gibt es ab 19 Uhr das Fest „Happy Birthday, altes Haus!“

Haben wir da nicht mal eine Szene über den Tod improvisiert, fragt er die Schauspieler. Ja, sagen die, aber nicht an dieser Stelle. Die Szene fehlt ihm jetzt, er blättert in Manuskripten und klagt über die vielen Verstorbenen der Volksbühne, darunter die wichtigen Regisseure Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff, Heiner Müller, Fritz Marquardt. Und wie er, Castorf, keine Totenreden mehr auf Beerdigungen halten wollte.

Die Volksbühne wird 100 Jahre alt, und die Programme, mit denen sie nun einen ganzen Monat ihr Jubiläum begeht, sehen einer Trauerfeier oft erschreckend ähnlich. Im oberen Foyer steht eine Bar in Gestalt eines Totenkopfes, daneben laufen Projektionen von Porträts der 230 Mitarbeiter und Künstler, die 2014 an der Volksbühne gearbeitet haben. Auch das ist ein Teil von „Fabrik“ von Thomas Heise, der seinen Blick auf die Volksbühne in mehrere Kapitel unterteilt hat. Als ich nach der Aufführung von Kapitel X, über die Solness-Proben, vor den Porträts verweilen will, wird das obere Foyer aber geschlossen. Und das am Abend der Premiere von „Fabrik“. Feiern geht anders.

Es ist jetzt oft erschreckend viel Platz in den Foyers. Kein Gedränge, wenig junge Leute im Publikum. Warum man in Tränen ausbrechen könnte über dieses halbleere Theater, das kann man aus den Bildern von Thomas Heise auch herauslesen.

Wertschätzung Arbeit

Eine lange Einstellung gilt dem von Schauspielern verlassenen Bühnenbild, Arbeiter kommen und gehen, einer beschäftigt sich lange mit einer Lampe und einem Lichtschalter, den die Schauspielerin Kathrin Angerer später mit dem großen Zeh erreichen will. Arbeit kann so schön sein, so konzentriert, so vielfältig, so erfindungsreich. Über jede Schraube hat sich hier jemand Gedanken gemacht. Heises „Fabrik“ ist auch ein Dokument der Wertschätzung jeder Arbeit, sei sie nun marktförmig oder nicht.

Der „Fabrik“ folgte am nächsten Abend eine Revue, „Ach Volk, du obermieses“, von Jürgen Kuttner und André Meier. Am Anfang gehört die Bühne einen Song lang einem Chor der Werktätigen, 16 Männern und Frauen, die sich nach und nach aus einem einzigen alten Volvo schälen und „Eve of destruction“ singen. „Schon morgen kann es geschehen und du bist am Ende“, geht der Refrain auf Deutsch, den sie nach jedem Applaus wieder neu anstimmen. Das ist großartig und bestürzend zugleich. Ein Abgesang, ein Angstgesang. Wie müssen sich alle diese Bühnenarbeiter, Maskenbildner, Requisiteure, die Heisig auch in anderen „Fabrik“-Kapiteln beobachtet, Abend für Abend an einem Haus fühlen, das an keine Zukunft für sich mehr glaubt.

Heiner Müller spricht mit den Schauspielern

Heise hat nicht nur selbst in der Volksbühne gedreht, sondern auch Material benutzt, mit dem die Filmabteilung des Hauses zu DDR-Zeiten die Theaterarbeit begleitete. So sieht man in weiteren „Fabrik“-Kapiteln im Foyer etwa Ausschnitte aus „Die Bauern“ von Heiner Müller, 1975 in der Regie von Fritz Marquardt, und die Schauspieler der Inszenierung im Gespräch mit dem Autor. In einem anderen Abschnitt sieht man aus den Kulissen den Schauspielern zu, die zum Applaus laufen, nach einer Inszenierung von Gotscheff.

Nach all diesen Künstlern fragt in Kuttners Revue eine Brecht-Puppe die Schauspielerin Ursula Karusseit, die viele Brecht-Rollen gespielt hat. Jedes Mal muss sie antworten: „Der ist schon gestorben.“ Mit zitternder Stimme will die Brecht-Puppe schließlich wissen: „Und das BE?“ „Das lebt noch.“ Da lacht das ganze Theater, schließlich ist das BE der Intimfeind der Volksbühne, obwohl sich beide auf ähnliche Ahnen berufen und immer Kunst für das Volk (das, wie Kuttner in einer schlenkernden Sprachkaskade hören lässt, meist eine realitätsferne Figur ist) machen wollten.

Verdächtige Kantinensitzer

Kuttners Revue hat viele schöne Episoden. Etwa wenn Sophie Rois Heiner Müllers Text „Mommsens Block“ spricht, über den Unwillen des Historikers bestimmten Zeitepochen gegenüber und das Vergessenwollen. Dabei unterbricht sie einer, der mal besser vergessen geblieben wäre, ein Volksbühnen-Portier, gespielt von Mex Schlüpfer, der in den Siebzigern unrühmlich auffiel, weil er Künstler, die noch um 0.30 Uhr in der Kantine saßen, bei der Volkspolizei anzeigte.

Diese Szene – Regie Castorf – steht exemplarisch für das Beste in der jüngsten Geschichte des Hauses, als aus der Ostsozialisation Kapital geschlagen wurde für einen kritischen Blick auf die tarnenden Kompromisse der Gegenwart.

Leider ist das Vergangenheit. Was mal widerspenstiges Potenzial hatte, ist erstarrt. Früher oder später kommt jede Castorf-Inszenierung beim verdrängten Faschismus in der deutschen Geschichte an, als ob es inzwischen nicht schon ganz andere Probleme gäbe. In der Revue geht es so Suse Wächter mit ihren Puppen: Früher oder später fangen deren Figuren an zu knarzen und zu hitlern, als wäre von Hitler zu reden noch immer das größte Tabu.

Tragischer Verlust für die Nazis

Die Rolle der Volksbühne in der Nazizeit thematisiert Suse Wächter mit Hitlermaske allerdings genial: Mit tragischer Stimme zählt sie die Verluste der Gewandabteilung nach einem Bombenangriff auf. Helme, Helme, Rüstungen, Beinschienen, Helme. Fast so viele Ritter, wie heute in den Schlachten von Mittelerde auftauchen, zogen über die Bühne der dreißiger Jahre.

Das Urteil, die Volksbühne sei heute in der Krise, greift die Revue als Geschwätz der Dummen auf, die zu faul sind, wirklich hinzuschauen, was heute dort passiert. Das ist keine überzeugende Verteidigung.

Kuttner baut in seinen rasanten Reden viele Brücken zwischen den legendären Intendanten Erwin Piscator (1924–1927), Benno Besson (1969–1977) und Frank Castorf und macht sie zu einer Kette von drei Heroen des Widerstandes gegen kommerzielle Begehren an die Kunst, gegen konsensuellen Kitsch und gegen Anbiederung an die Chimäre Volk. Diese Verklärung des gegenwärtigen Intendanten hat einen unangenehmen Beigeschmack. Der Blick auf 100 Jahre Volksbühne hätte wahrlich andere Erkenntnisse zugelassen, als Castorf als den tragischen Vollender einer Epoche zu beschreiben.

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