Schnee, Eis, Winter: Endlich Fahrradzeit

Die Finger sind kalt, die Straßen glatt, und da ist niemand zum Überholen. Überhaupt ist da nichts – außer Glück.

Geht auch im Winter, sogar mit Schirm: Radeln. Bild: dpa

Es war der Winter vor vier Jahren, ein richtiger Winter. Auf den Fahrradwegen türmten sich die Schneeberge, so hoch und tief und mächtig, dass die Stadt es noch nicht geschafft hatte, sie mit ihrem Grau zu überziehen. Ich fuhr auf der Straße. Die Straße war geräumt, wie immer. Auf ihrem nächtlichen Schwarz schimmerten Salz und Eis im Licht der Laternen. Die Luft floss über mein Gesicht, in meine Lungen, kalt und frisch.

Ich hörte das Auto erst, als es schon direkt neben mir fuhr, viel zu nah. Von drinnen brüllte jemand. Es klang nach: Fahrradweg. Ich erschrak kurz. Dann fuhr ich weiter. Wartete, dass die Stille wieder eisig würde. Aber vorn an der Ampel war das Auto zum Stehen gekommen. Der Fahrer beugte sich herüber. „Ich fahr doch sonst auch Rad“, rief er. „Aber du kannst doch nicht einfach auf der Straße fahren.“

Doch, dachte ich. Doch. Auch wenn ich manchmal den Adrenalinschauder genoss, wenn auf dem Radweg ein Reifen im Matsch ins Schlingern geriet. Wenn es einem kurz alles wegzog. Und dann doch nicht. Nix Planing. Nix wie: Schnee.

Ich erinnere mich nur an drei Stürze. Und einer war auf Eis. Und ich schlitterte lange.

Doch, dachte ich, an dieser Ampel, in dieser Kälte. Doch. Die Bahn ist frei. Es ist Winter. Endlich. Was weißt du schon.

(JOHANNES GERNERT)

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Nein, da ist überhaupt kein Glück, da ist nur Matsch oder Glatteis. Wenn überhaupt. Meist ist da einfach nur grausame Kälte. Klirrende. Also eine, die Geräusche macht. Geräusche, die einen in den Wahnsinn treiben, weil sie eigentlich gar nicht da sind und sich niemand nach ihnen umdreht. Manch einer schlägt wegen ihnen die Hände auf die Ohren. Das aber können die, die zu diesen Geräuschzeiten auf dem Fahrrad sitzen müssen, nur unter Aufbietung größter Artistik tun.

„Into the wild“, denke ich jedes Mal, wenn ich bei Minusgraden auf mein Fahrrad steigen muss. Und das Fahrrad denkt wahrscheinlich: „?“, so wie Jolly Jumper es immer dann tut, wenn Lucky Luke einen fragwürdigen Weg einschlägt. Ich würde meinem Fahrrad und mir diese Wege gern ersparen, aber mein Arbeitgeber stellt für seine Angestellten weder einen Shuttle-Bus zur Verfügung, noch bezahlt er ihnen ein Taxi, das sie warm, sicher und glücklich zum Arbeitsplatz und von da in die Kneipe oder nach Hause bringen könnte.

Bus, Bahn oder Tram sind dann, wenn es draußen wieder klirrt, natürlich keine Alternative. Denn auch der Selbsttransport mit öffentlichen Mitteln ist eine Art Wildniserfahrung. Allerdings bringt sie einen weniger vorwärts als in den Stillstand. Stundenlanges in Schneematschseen Herumstehen an Bahnsteigen und Haltestellen führt zu schlechter Laune, Eisfüßen und Nasenlaufen. Die Eisfüße schleppt man dann noch den ganzen Tag mit sich herum, und bis sie wieder einigermaßen aufgetaut sind, muss man auch schon wieder zurück, steht stundenlang in Matschseen und so weiter, kommt zu Hause oder in der Kneipe an, hat wieder Eisfüße, fühlt sich, als hätte man den Kilimandscharo bestiegen, obwohl es höchstens drei Bus- oder Bahnsteigstufen waren.

Also tue ich so, als sei mein Fahrrad ein Apfelschimmel, der auf einer Blume kaut, pfeife ein bescheuertes, unvollendetes Lied von Einsamkeit und Cowboytum und freue mich auf das Ende des Winters, wenn ich wieder selig in den Sonnenuntergang fahren kann.

(DORIS AKRAP)

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Der Schlüssel passt nicht. Geht nicht rein. Ein bisschen ruckeln, ein bisschen mehr, dann ist er drin. Und lässt sich nicht drehen. Wieder ruckeln. Jeden Morgen wieder, die Finger schmerzen schon von der Kälte, die Haut rot und rissig, dann schnappt das Schloss doch auf. Schnell Handschuhe drüber. Und raus. Kaum auf die Straße getreten, will man wieder umdrehen, zwei Pullis wären besser gewesen. Egal jetzt, los, wieso gibt es eigentlich keine Sitzheizung für den Sattel? Weitertreten.

Was sonst? Sich in die U-Bahn quetschen, in den Bus, zu all den anderen Michelin-Männchen mit ihren Michelin-Männchen-Jacken? In einer Sardinenbüchse wäre mehr Platz. Sardinen sind schlanker. Und ja, auch im Winter schwitzen Menschen und riechen, im überheizten Nahverkehr. Die Saison-Radler, die schon vor Wochen ihr pastellfarbenes Hollandrad – der Frühling kommt ja wieder – in den Keller entsorgt haben, um sich, mit Monatskarten ausgestattet, in Waggons reinzuschieben. Nie wieder mitschieben – und vor allem: nie wieder mitgeschoben werden.

Weitertreten. Die Straße: leer. Klar. Zumindest der rechte Streifen, der Meter, auf den es ankommt. Der Frost kneift in die Wangen, die Mütze kratzt, die Nase läuft auch ohne Schnupfen. Bloß keine rote Ampel jetzt. Stehen bleiben heißt noch mehr frieren. Treten, treten. Fast zu schnell ist man da. Das Schloss ploppt auf und zu. Die Wangen ganz rot, die Haut kribbelt warm, als wäre man gerade in der Sauna gewesen. Das Büro: leer. Dann Frühstück, Kaffee. Auf die Michelin-Männchen warten.

(EMILIA SMECHOWSKI)

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Das Fahrrad stand eines Tages vor der Tür, nicht angeschlossen, nicht abgeschlossen, matt-schwarz, mit elegantem Schwung, ausladendem Lenker, das hintere Schutzblech zur Hälfte weiß lackiert. Marke Union, eine echte Holländerin. Der Fahrradmonteur, de fietsenmaker, der es nur ein wenig aufarbeiten musste, ist mit einem ähnlichen Modell mal vom tiefsten Norddeutschland bis nach Paris gefahren, in seinem Laden hängt ein Foto davon. Er auf dem Fahrrad, den Eiffelturm betrachtend. Ein knurriger Typ von wenigen Worten mit ölverschmierten Händen. „Das ist so n Lieblingsrad“, sagte er, 15 Euro wollte er haben für Licht, neuen Bremsbelag, ein paar Schrauben.

Das Fahrrad ist im täglichen Einsatz, typologisch eine Art Wohnzimmersofa, man kann darauf nicht sportlich sitzen. Zwar gab es den neuen Bremsbelag, aber die Stempelbremse hat kaum Wirkung, die Rücktrittbremse ist schwach, es hat nur den einen Gang, der ihm von Natur aus gegeben ist. Ein Fixie, so in der Art. Gezwungenermaßen.

Aber ich nehme es an. Fixiefahrer sind Kampfradler. Ich bin Kampfradler, perfekt getarnt. Im schicken Winterzwirn – sommers entsprechend anders –, mit dem Sofarad auf den Straßen Berlins unterwegs.

Na gut, andere würden sagen: Kampfradler im Möchtegernstatus, bedingt einsatzbereit. Das sind die, die mich morgens überholen. Weil ich mit meinem Single Speed der langsamste Kampfradler der Welt bin. Ich versuche, das Gewicht meines Stahlrahmens, die Schwergängigkeit des einen Gangs, die eher unsportliche Sitzposition wettzumachen, indem ich mich vor roten Ampeln an die Spitze des Feldes rollen lasse. Sie ziehen wenig später an mir vorbei, stirnrunzelnd, mindestens. Fluchend, manche. Weil ich mal kurz im Weg war.

Ich lasse sie, sehr zurückgelehnt, passieren. Und habe dann die Straßen wieder für mich. Jetzt erst recht, in diesen kalten Zeiten. Sie fahren Bus, ich hoffe auf Tiefschnee, da spielt mein Union die Stärke aus, die schmalreifige Schnellfahrer nicht haben: breite Schlappen, beste Straßenlage.

(FELIX ZIMMERMANN)

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