Opferanwalt über Oktoberfestattentat: „Es kann so nicht gewesen sein“

Werner Dietrich hat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zum Oktoberfestattentat erreicht. Er bezweifelt schon lange, dass es sich um einen Einzeltäter gehandelt hat.

1980: Abtransport eines Sargs vom verwüsteten Tatort in München Bild: dpa

taz: Herzlichen Glückwunsch, Herr Dietrich! Ihr dritter Wiederaufnahme-Antrag hatte Erfolg: Die Bundesanwaltschaft nimmt 34 Jahre nach dem Anschlag die Ermittlungen zum Oktoberfestattentat wieder auf.

Werner Dietrich: Das ist eine große Freunde und Genugtuung für mich und meine Mandanten. So etwas hat es in der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte noch nicht gegeben.

Warum hat Generalbundesanwalt Range jetzt neue Ermittlungen angeordnet – und damit anders entschieden als seine Vorgänger 1984 und 2008?

Die Beweislage hat sich verbessert. Es haben sich neue Zeugen gemeldet, die eigentlich alte sind, bisher aber nicht adäquat berücksichtigt wurden. Eine Zeugin hat konkrete Hinweise auf einen möglichen Mittäter oder zumindest Mitwisser geliefert, der noch lebt. Außerdem hat sich die politische Lage verändert. Die Stimmung ist eine ganze andere als in der Kohl-Ära. Und die Sicherheitsbehörden sind durch das multiple Versagen beim NSU verunsichert und auch sensibilisiert. Die Behörden wollen ein weiteres Desaster vermeiden.

Was erwarten Sie von neuen Ermittlungen?

Die Bundesanwaltschaft hat zugesagt, breit und mit offenem Ausgang zu ermitteln. Die entscheidende Frage ist natürlich, ob es Mittäter oder Hintermänner gab und wer das war. Aber es sind auch viele Details offen. Was war mit den 47 oder 48 Zigarettenkippen, die in Köhlers Auto gefunden wurden, vorne und hinten, mit Filter und ohne? Wer hat sie vielleicht auf dem Weg zum Oktoberfest geraucht? Die Kippen wurden vernichtet. Dann diese abgerissenen Hand, die verschwunden sein soll. Die Polizei geht davon aus, dass es Köhlers Hand gewesen ist …

Köhler, der Bombenleger, kam damals ums Leben.

Aber Fingerabdrücke dieser Hand fanden sich bei Köhler zu Hause nur auf einem Ordner im Keller. Wenn es Köhlers Hand gewesen wäre, hätten die Abdrücke überall sein müssen. Die Hand muss also zu jemand anders gehören. Sicher ist: Sie gehört zu keinem der Toten und keinem der anderen Opfer.

68, ist Rechtsanwalt in München und vertritt seit 1980 Opfer des Oktoberfestattentats. Er hatte von Anfang an massive Zweifel an der Einzeltäterthese. Dreimal hat er die Wiederaufnahme der Ermittlungen beantragt, diesmal mit Erfolg.

Können Ermittlungen 34 Jahre nach der Tat wirklich neue Erkenntnisse bringen? Viele Asservate wurden vernichtet, wichtige Zeugen sind tot …

Die Beweislage ist nach 34 Jahren schwieriger als kurz nach der Tat. Aber es gibt Zeugen, die nachweislich am Tatort waren und sich präzise erinnern.

Das bayerische LKA wird ermitteln. Bekommen die Beamten etwas Neues heraus, zeigt das, dass die Behörde damals – bewusst oder unbewusst – schlecht gearbeitet hat. Das gilt auch für die Bundesanwaltschaft. Kann das zum Erfolg führen?

Ich glaube, dass die Bundesanwaltschaft ergebnisoffen ermitteln wird und die Arbeit auf sämtliche Aspekte erstreckt. Bereits 1982 hat sie gesagt: Wir haben zurzeit keinen weiteren Täter. Sie hat sich gerade nicht auf Gundolf Köhler als Alleinverantwortlichen für das Massaker festgelegt – anders als das bayerische LKA. Insoweit darf man gespannt sein, wie die damals und heute beteiligten Behörden mit der neuen Beweislage umgehen.

Das Verbrechen: Die Bombe, die am 26. September 1980 um 22.19 Uhr am Haupteingang des Münchener Oktoberfests explodierte, tötete 13 Menschen und verletzte 211, darunter 68 schwer. Es war der bislang schlimmste Terroranschlag in der Bundesrepublik.

Die Politik: Der Anschlag fiel in die letzten Tage des Bundestagswahlkampfs, den SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt gegen den bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU) führte, den Kandidaten der Union. Dieser hatte neonazistische Gruppen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann stets verharmlost.

Die Ermittlungen: Die Bundesanwaltschaft stellte zwei Jahre nach dem Attentat die Ermittlungen im November 1982 ein. Gundolf Köhler, der bei dem Anschlag ums Leben kam, blieb als einziger Täter übrig. Der 21-jährige Geologiestudent aus Donaueschingen war Anhänger der neonazistischen Wehrsportgruppe Hoffmann. Insbesondere die bayerische Polizei hatte sich früh auf die Einzeltäterthese festgelegt – auch wenn vieles dagegen sprach. Am vergangenen Donnerstag hat der Generalbundesanwalt angeordnet, die Ermittlungen wieder aufzunehmen.

Sie haben der Bundesanwaltschaft eine neue Zeugin geliefert. Wie kam es dazu?

Sie hat sich bei mir gemeldet und erzählt, dass sie am Morgen nach dem Attentat aus Versehen in den Spind eines ihrer Sprachschülers geschaut hat, eines Spätaussiedlers aus Schlesien, der durch rechtsextreme Äußerungen aufgefallen war. Darin lagen zwei Pistolen und ein Stapel Flugblätter. Darauf stand: Gundolf Köhler ist für eine gute Sache gestorben. Der Name Köhler war am Tag nach dem Attentat öffentlich, aber noch nicht bekannt. Der Mann muss also etwas gewusst haben. Nach dem Unterricht sagte er, er würde nach Argentinien zu alten Freunden verreisen. Am nächsten Tag war er weg. Sie hat das sofort bei der Polizei gemeldet und danach nichts mehr von ihr gehört. Inzwischen konnten die Behörden den Spätaussiedler ausfindig machen. Das könnte die Spur zu einem oder mehreren lebenden Mittätern oder Mitwissern sein.

Warum hat sich die Frau erst jetzt gemeldet?

Sie ging damals davon aus, dass sie der Polizei alles gesagt und diese ermittelt hat. Aber nachdem das Versagen der Sicherheitsbehörden beim NSU bekannt wurde und sie den Film „Der blinde Fleck“ über die Ermittlungen nach dem Oktoberfestattentat gesehen hat, sind ihr Zweifel gekommen. Als dann wieder über das Attentat berichtet wurde, über neue Zeugen, hat sie sich bei mir gemeldet.

Kann eine Zeugin nach 34 Jahren noch glaubhaft aussagen?

Etwas Konstruiertes nicht. Aber wenn sie das selbst erlebt hat, dann schon. Manchen hat sich dieser Tag richtig ins Gedächtnis eingebrannt. Der Generalbundesanwalt hält die Aussage der Zeugin für werthaltig.

Wie viele dieser neuen alten Zeugen gibt es insgesamt?

Fünf, aber es melden sich laufend neue. Einer von ihnen würde sich sogar einen Splitter der Bombe herausoperieren lassen – als mögliches Beweismittel. Bisher gab es vor allem den inzwischen verstorbenen Zeugen Frank Lauterjung, der ausgesagt hatte, Köhler habe längere Zeit mit zwei Leuten gestritten, die offensichtlich mit ihm zusammen auf das Oktoberfest gekommen sind. Die sind dann weggelaufen, und kurz danach explodierte die Bombe. Lauterjung hat das mehrere Male ausgesagt und wurde von der Bundesanwaltschaft auch als glaubhaft eingestuft, bei einer fünften oder sechsten Vernehmung ging es meiner Ansicht nach nur noch darum, ihn zu verunsichern. Schließlich hat er gesagt, es könne auch eine Zufallsbekanntschaft gewesen sein.

Und Ihre neuen alten Zeugen bestätigen Lauterjungs anfängliche Aussage?

Ja.

Es soll auch neue Akten geben. Was hat es damit auf sich?

Bei den Behörden des Freistaats Bayern und anderen Sicherheitsbehörden sind zahlreiche Akten gefunden worden, die bisher nicht bekannt waren oder nicht verwertet wurden. Die wurden im bayerischem Hauptstaatsarchiv „entsorgt“, ohne dass sie systematisch auf ihre Zusammenhänge mit dem Attentat untersucht worden wären. Es macht den Eindruck, als wollten die beteiligten Behörden sie möglichst schnell loswerden. Ich habe beantragt, alle Akten zu den Hauptstrafakten hinzuzuverbinden und dadurch uneingeschränkt und ungeschwärzt Einsicht und Verwertung zu ermöglichen. Auch beim BND gibt es noch Akten und natürlich die Akten zum Fall Lembke aus Niedersachsen.

Sie meinen den Neonazi Heinz Lembke, der wie Köhler Anhänger der Wehrsportgruppe Hoffmann war und 1981 in der U-Haft tot aufgefunden wurde?

Genau. Einen Tag nach dem Oktoberfestattentat haben Mitglieder der Deutschen Aktionsgruppen, die damals im Knast saßen, ausgesagt, dass Lembke ihnen Waffen, Sprengstoff und Munition für Anschläge angeboten habe. Bei Lembke sind später 88 Kisten mit automatischen Waffen, Panzerfäusten, Munition, Sprengstoff und Handgranaten gefunden worden, die im Wald vergraben waren. Lembke wollte vor der Bundesanwaltschaft über Hintermänner und die Waffen auspacken – aber einen Tag vor seiner Vernehmung wurde er erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Lembke soll die Waffendepots als Einzeltäter aufgrund seiner Angst vor einer Invasion der Russen angelegt haben. Aber es gibt Hinweise, wonach er zu „Stay Behind“ gehört haben könnte …

eine klandestine militärische Widerstandsorganisation, die nach einer möglichen sowjetischen Invasion im Hinterland Sabotageakte ausführen sollte.

Außerdem spricht einiges dafür, dass Lembke V-Mann war. Die Akten dazu hält die Bundesregierung weiter unter Verschluss. Woher Lembkes Waffen kamen, blieb ungeklärt. Auch ein Abgleich mit dem Sprengstoff des Oktoberfestattentats wurde nicht durchgeführt.

Herr Dietrich, Sie verbringen jetzt mehr als 30 Jahre mit diesem Fall. Es gab Zeiten, da hat man Sie als Spinner abgetan, der sich verrannt hat. Warum sind Sie drangeblieben?

Erst mal waren da die Opfer, die verzweifelt waren wegen der Einstellung der Ermittlungen. Und je mehr ich mich da eingearbeitet habe, umso mehr Zweifel sind mir selbst auch gekommen. Diese Zweifel haben sich bestätigt. Ein Einzeltäter – es kann so einfach nicht gewesen sein.

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