Whistleblower zum Spion ernannt

URTEIL Ein Militärgericht spricht den US-Soldaten Bradley Manning in fast allen Punkten schuldig. Bis das genaue Strafmaß feststeht, kann noch viel Zeit vergehen. Ihm drohen bis zu 136 Jahre Haft

Bradley Manning wurde vom Militärgericht in 20 von 22 Punkten schuldig gesprochen. Die Haftstrafen der einzelnen Unterpunkte werden anders als im deutschen Recht summiert:

1. Anklagepunkt: Hilfe für den Feind Höchststrafe: Todesstrafe

■ Unterpunkt 1: wissentliche Weitergabe von Infos an den Feind.

Urteil: nicht schuldig.

2. Anklagepunkt: Fehlverhalten von Armeeangehörigen Höchststrafe: unehrenhafte Entlassung. Je 2 Jahre Haft für Unterpunkte 1, 2 und 14. Je 10 Jahre Haft für alle anderen Unterpunkte.

■ Unterpunkt 1: Weitergabe von Infos mit dem Wissen, dass es für den Feind zugänglich ist.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 2: Spionage, Weitergabe des Videos, das einen US-Hubschrauberangriff auf Zivilisten im Irak zeigt.

Urteil: minderschwere Schuld.

■ Unterpunkt 3: Spionage, Memorandum eines US-Geheimdienstes. Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 4: Diebstahl, 380.000 Dateien. Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 5: Spionage, mehr als 20 Aufnahmen.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 6: Diebstahl, mehr als 90.000 Dateien.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 7: Spionage: mehr als 20 Aufnahmen aus der Cidnea-Datenbank. Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 8: Diebstahl, mehr als 700 Aufnahmen aus der Datenbank des US-Süd-Kommandos.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 9: Spionage, mehr als 3 Aufnahmen aus der Datenbank des US-Süd-Kommandos.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 10: Spionage, mehr als 5 Aufnahmen bzgl. einer Operation in Afghanistan.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 11: Spionage, illegales Herunterladen des Videos von tödlichen Angriffen auf Zivilisten durch US-Kampfhubschrauber im Irak. Urteil: nicht schuldig.

■ Unterpunkt 12: Diebstahl, 250.000 Dateien der State-Department-Datenbank.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 13: illegale Datenabschöpfung, mehr als 75 Cables des State Department.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 14: illegale Datenabschöpfung, das Cable „Reykjavik-13“ des State Departments.

Urteil: minderschwere Schuld.

■ Unterpunkt 15: Spionage: eine Aufnahme eines US-Geheimdienstes. Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 16: Diebstahl, Adressenliste der US Forces.

Urteil: schuldig.

3. Anklagepunkt: Befehlsverweigerung Höchststrafe: unehrenhafte Entlassung, Haftstrafe von 2 Jahren je Unterpunkt.

■ Unterpunkt 1: Umgehen von Sicherheitsvorkehrungen.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 2: Installation nicht genehmigter Software.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 3: Installation nicht genehmigter Software.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 4: Missbrauch von Informationssystemen.

Urteil: schuldig.

■ Unterpunkt 5: illegales Abspeichern von Geheiminformationen.

Urteil: schuldig.

PKT, GA

Quelle: US Army Military Disctrict

AUS WASHINGTON ANTJE PASSENHEIM

Jetzt sind es nur noch Fragen der Zeit. Wann kommt das genaue Strafmaß für den am Dienstag verurteilten Bradley Manning? Wie lange soll der Whistleblower tatsächlich ins Gefängnis? Und hat der heute 25-jährige US-Soldat jemals die Chance, wieder in Freiheit zu leben? Den schwerwiegendsten Anklagepunkt der „Hilfe für den Feind“, für den in den USA die Todesstrafe verhängt werden kann, braucht Manning zwar nicht mehr zu fürchten. „Doch aus der Schusslinie ist er nicht“, betont sein Verteidiger David Coombs. In 20 von 22 Anklagepunkten hat das Gericht den Angeklagten am Dienstag für schuldig befunden. Nun droht dem 25-Jährigen immer noch eine bis zu 136 Jahre lange Haftstrafe.

Manning habe gegen Spionagegesetze verstoßen, entschied das Militärtribunal, weil er während seiner Stationierung im Irak zwischen November 2009 und Mai 2010 Hunderttausende Geheimdokumente von Militärrechnern heruntergeladen und der Enthüllungsplattform Wikileaks zugespielt hatte. Die Veröffentlichung der rund 700.000 Dokumente im Internet gilt als das größte Datenleck der US-Geschichte. Eines der weitergegebenen Videos zeigt einen Hubschrauberangriff des US-Militärs auf Zivilisten 2007 in Bagdad.

Über das genaue Strafmaß berät das Militärgericht seit gestern. Kritiker erwarten einen weiteren langen Prozess – und wenig Gnade: Richterin Denise Lind sei befangen. Die Chefin des Prozesses erwartet nämlich ihre Beförderung.

„Sie bekam den Ruf an das nächsthöhere Militärgericht, das Berufungsgericht“, sagte der Jurist und Anwalt von Wikileaks-Chef Julian Assange, Michael Ratner. „Das finde ich bemerkenswert, dass der Richterin mitten im laufenden Verfahren des größten Whistleblowers in der Geschichte der USA eine höhere Position gegeben wird.“ Das erinnere an das Spionageverfahren gegen Daniel Ellsberg, der Anfang der 1970er Jahre mit der Veröffentlichung geheimer Pentagon-Papiere Verbrechen des Vietnamkriegs enthüllt hatte. Mitten in diesem Prozess sei dem Richter von einem Mitarbeiter Präsident Richard Nixons der Posten des FBI-Chefs angeboten worden.

Rechtsexperten gehen davon aus, dass die Frage der Haftstrafe Mannings zwar vor dem Berufungsgericht landen wird. Große Chancen habe der Angeklagte dort aber auch nicht. Das Berufungsverfahren werde wohl ein Kollege von Richterin Lind leiten, so Jurist Ratner. „Die werden ihr doch nicht beim Mittagessen sagen: Wir haben deine Entscheidung von damals revidiert, weil sie falsch war.“

Der Rechtsexperte Philip Cave glaubt, dass das endgültige Strafmaß für den bereits seit drei Jahren inhaftierten Whistleblower erst in mehreren Jahren feststehen werde. Nach dem Berufungsgericht des Militärs könnten sich noch ein ziviles Berufungsgericht bis hin zum Obersten Gericht der USA mit dem Fall befassen. Richterin Lind habe bei der Verhängung des Strafmaßes völlig freie Hand, sagte Cave dem Radiosender NPR. „Sie kann alles entscheiden – von der Straffreiheit bis hin zur Höchststrafe.“ Es gebe vor einem Militärgericht keine Richtlinie für Mindeststrafen.

Lind kann sich nun wochenlang Zeit lassen. Anklage wie Verteidigung werden für die Findung des Strafmaßes abermals jeweils rund 20 Zeugen ins Rennen schicken. „Wir haben die Schlacht gewonnen, nun müssen wir auch noch den Krieg gewinnen“, erklärte Manning-Verteidiger Coombs. Zahlreiche Unterstützerorganisationen kündigten ihre Hilfe an.

Eine Gruppe von ihnen zog noch am Abend des Urteilsspruchs vor den Wohnsitz von Präsident Barack Obama in Washington. „Wir verleihen unserer Hoffnung Ausdruck, dass Manning vom Weißen Haus begnadigt wird“, erklärte Malachy Kilbride vom „Manning Support Network“.

Besonders kritisiert wurde, dass Richterin Lind den ehemaligen Iraksoldaten Manning in sechs Fällen nach dem antiquierten Spionagegesetz verurteilt hat. „Das ist ein ernsthafter Präzedenzfall für jemanden, der Informationen an die Presse weitergeleitet hat“, twitterte die Enthüllungsplattform Wikileaks, über die Manning vor drei Jahren seine Informationen an die Öffentlichkeit brachte.

„Wir drücken unsere Hoffnung aus, dass er begnadigt wird“

MANNING-UNTERSTÜTZERIN VOR DEM WEISSEN HAUS

„Die Weitergabe von Informationen im öffentlichen Interesse an die Presse sollte nicht unter das Spionagegesetz fallen“, so Ben Wizner von der Menschenrechtsorganisation American Civil Liberties Union (Aclu).

Auch die Familie des Verurteilten hielt nicht mit ihrer Enttäuschung hinter dem Berg. In einem vom Guardian veröffentlichten Schreiben erklärte sie: „Brad liebte sein Land und war stolz, dessen Uniform zu tragen.“ Es sei allerdings erfreulich, dass Manning auch nach Auffassung der Richterin den Feinden der USA niemals habe helfen wollen.

„Wir finden es unerträglich anzusehen, wie hier ein ehemaliger Staatsbediensteter dafür verurteilt wird, dass er Missstände aufdecken wollte“, sagte Gregg Leslie vom Reporters Committee for Freedom of the Press der New York Times.

Während Manning für seine Anhänger als Held aus dem Prozess herausging, warnten andere vor weiter lauernden Gefahren. „Manning hat unserer nationalen Sicherheit geschadet“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung des konservativen Vorsitzenden des Geheimdienstausschusses des Repräsentantenhauses, Mike Rogers, und des führenden Demokraten im Ausschuss, Dutch Ruppersberger. „Es gibt noch immer viel zu tun, um Kriminelle wie Bradley Manning und Edward Snowden daran zu hindern, unsere nationale Sicherheit zu bedrohen.“