Eine chancenlose Elektra

PREMIERE Regisseur Stefan Pucher inszeniert Sophokles’ Rachedrama „Elektra“ im Deutschen Theater mit vielen Videoprojektionen. Bilder und Musik sind so übermäßig, dass die Hauptdarstellerin nicht dagegen ankommt

VON TOM MUSTROPH

Klein, schmächtig, mit kurzen ausgefransten Haaren steht Katharina Marie Schubert als Elektra auf der Bühne des Deutschen Theaters. Um sie herum sind Videowände aufgetürmt, die in einem Bilderkontinuum irgendwo zwischen Lynch und Tarantino von vergangenen Morden und aktuellen Rachefantasien erzählen. Dazu ploppen satte Töne von den Saiten einer Bassgitarre.

Als der Bass verstummt, die Bilder ersterben und das Licht Katharina Marie Schubert erfasst, hofft man für einen kurzen Moment, diese schmächtige Frau im Frack könnte eine Laurie Anderson sein, die perlklare Dinge zu sagen hat, die die Welt auch mit minimalsten Klängen in Schwingung zu versetzen weiß. Vielleicht, so hofft man, hat Schubert auch das Format einer Björk, die elfenhaft eine Welt verzaubern, Schrecken in Schönheit verwandeln, ein Echo des Schreckens aber durchaus nachklingen lassen kann.

Doch diese Hoffnungen verfliegen. Regisseur Stefan Pucher hat es so eingerichtet, dass Schubert nicht gegen die übermäßigen Videoprojektionen ankommt. Sie bleibt klein, blass und trotz allen Schreiens machtlos. Sie ist Theaterschauspielerin, Bedienerin einer älteren Visualierungstechnologie, die, wenn es um Überwältigungsbilder geht, so chancenlos ist gegen das neuere Medium wie ein Rennrad gegen einen Formel 1-Wagen, wenn das Kriterium allein die Geschwindigkeit ist.

Bilder und Musik dominieren Schuberts Elektra die gesamten 90 Minuten – auf gut konsumierbare Doppelalbum-Länge hat Pucher das Drama eingedampft. Schlimmer noch, die Bilder selbst werden trotz des Könnens eines Chris Kondek zu kaum mehr als einer Videotapete für die nicht sonderlich originelle, auf Elektropop getrimmte Folkmusik von Charles „the Killer“ Manson und Bonnie „Prince“ Billy. Der Tiefpunkt dieser Beziehung von Bild, Musik und Text ist erreicht, wenn Elektra vom angeblichen Unfalltod ihres Bruders Orestes beim Pferderennen erfährt und Fimmaterial von Verkehrsunfällen lastwagengroß an den Bühnenhintergrund geworfen wird. In besseren Tagen mag das bei Pucher selbst, aber auch bei Frank Castorf funktioniert haben als Erweiterung der Dimensionen von Erschrecken und Verstehen, es führte zu einem zeitgenössischen Überwältigtsein bei alten, angestaubten Stoffen – legendär etwa die Verschmelzung von „Nibelungen“ und „Natural Born Killers“. Im Fall dieser „Elektra“ erweist sich das als in den Anschaffungskosten zwar teure, in den Mitteln aber billige Illustration.

Dieser Abwärtsschleife aller künstlerischen Mittel stellt sich nur Susanne Wolff in den Weg. Ihre Klytaimnestra, Mutter Elektras, Mörderin ihres Mannes und des Vaters von Elektra und Orestes, erklärt standhaft ihre blutigen Taten. Sie ist, mit hochgetürmter Sitcom-Frisur, eine Mutti, die Entscheidungen getroffen hat, diese Entscheidungen zu begründen weiß und zu ihnen auch steht – egal, ob die anderen darüber toben, zetern oder weinen.

Puchers Elektra hat den Argumentationen der Klytaimnestra wenig entgegenzusetzen. Letztere stiehlt der Anklägerin allein mit dem Hinweis die Schau, dass Gatte und Vater Agamemnon die eigene Tochter Iphigenie, eine Schwester Elektras, dem schnöden Kriegsglück auf der Fahrt nach Troja geopfert hat.

Ein Diskurs über das höhere Recht wäre hier interessant gewesen, vielleicht auch ein Gedanke über einen Ausweg aus dem Aug um Aug, Zahn um Zahn-Dilemma. Aber Pucher kleistert mit Videoschwall und Gesang wieder alles zu.

Noch eine Chance, eine künstlerische Idee zu „Elektra“ zu entwickeln, lässt er verstreichen. Felix Goeser als Orestes ist ein so erschlaffter Rächer, dass er vom Schwesterchen zum Morden fast getragen werden muss. Es klafft kurz der Spalt auf zwischen den Göttern, die diese Rache ja befohlen haben, und den Menschen, die nur Instrumente sind. Aber auch diese Option zum Spiel mit Determination und Freiheit ist Pucher nichts wert. Er begnügt sich damit, dieses Stück um Rache und Strafe, um Krieg, Gesetz und Realpolitik mit einer süßen, poppigen Kruste zu ummanteln. Der Verzehr mag noch angehen. Die Zahnschmerzen setzen aber sofort ein.