Das unverstellte Pathos des Neubeginns

BERLIN BIENNALE „Was draußen wartet“ lautet das Motto der 6. Berlin Biennale. Über die politisch korrekte künstlerische Haltung und den Dokumentarismus kommt die Schau selten hinaus. Trotzdem gilt es, der Auswahl der Kuratorin Kathrin Rhomberg Respekt zu zollen

Es geht um Wirklichkeit. Aber nicht bloß um deren sichtbare Oberfläche, sondern um eine Form der körperlichen Einfühlung in die Wirklichkeit

VON BRIGITTE WERNEBURG

Der Eingang zu den Kunst-Werken in der Auguststraße in Berlin-Mitte ist verrammelt. Der Weg zur 6. Berlin Biennale führt durch den Keller. Aber nur so gelangt man auf der Ebene der im Untergrund versenkten Ausstellungshalle zu Petrit Halilajs Rekonstruktion des Neubaus seines Elternhauses in Pristina – und wird sich des monumentalen Charakters dieser Rekonstruktion bewusst. Halilajs Nachbau sprengt die Decke des Ausstellungsraums. Dabei ist er eher eine große Leerstelle als ein Haus, denn er besteht nur aus den Holzverschalungen für die Betonbauteile. Man bestaunt also eine wuchtige Holzskulptur, in der der Künstler auch ein paar Hühner angesiedelt hat, die nun gackernd herumstolzieren. Man freut sich über die selbstbewusste Setzung, das unverstellte Pathos des Neubeginns nach dem Krieg, die große Geste, die auf den Rundgang einstimmt, der im Parterre und im ersten Stock weiterhin Petrit Halilaj gehört. Im Erdgeschoss zeigt er Skizzen zur Hausrekonstruktion und ein Video vom Leben im Hühnerhof, wobei der Hühnerstall die verwegene Gestalt einer Rakete hat. Das leere zweite Geschoss kokettiert als eine tadellose Realisation des White Cube – abgesehen von dem kleinen Manko des roh herausgebrochenen Fensters, durch das man auf das Dach des Hausnachbaus blickt.

Die Größe der Garderobe

Etwas stimmt nicht mit der Garderobe im Erdgeschoss des zweiten großen Ausstellungsorts der 6. Berlin Biennale, eines ehemaligen Kaufhauses am Oranienplatz in Kreuzberg. Dessen ist man sich bei ihrem Anblick sofort sicher. Sie nimmt viel zu viel Raum ein, und sie ist viel zu perfekt mit ihren hübschen Nummernschildchen, die an den Haken baumeln. Tatsächlich handelt es sich um eine Installation des slowakischen Künstlers Roman Ondák, der mit seiner Arbeit „Loop“ bei der letzte Biennale in Venedig für Furore sorgte. Für sie pflanzte er die Vegetation der Giardini durch den sonst leeren Tschechischen und Slowakischen Pavillon hindurch. Ähnlich unübertroffen lakonisch stellt er jetzt mit „Zone“ die Repräsentationsarchitektur der Garderobe heraus und markiert ihre politische Funktion.

Es gehe bei der von ihr kuratierten 6. Berlin Biennale, hat deren künstlerische Leiterin Kathrin Rhomberg in den letzten Wochen immer wieder betont, darum, solche Künstler und solche Arbeiten vorzustellen, die ein neues Verhältnis der Kunst zur gegenwärtigen Wirklichkeit entwickeln. Ein Verhältnis, das also weder schlicht dokumentarisch noch rein formal-ästhetisch und kunstimmanent ist noch sich distanziert genießend über eine retrospektiv-nostalgische Perspektive absichert. Es gehe um ein Verhältnis zur Wirklichkeit, wie es nach Meinung von Rhomberg positiv gewendet erstmals in der Kunst von Adolph Menzel (1815–1905) zu beobachten sei. Deshalb hat sie auch den amerikanischen Kunsthistoriker und Menzel-Kenner Michael Fried für die Ausstellung von Zeichnungen und Gouachen des Künstlers gewonnen, mit der die Alte Nationalgalerie zu einem weiteren Ort der Berlin Biennale wird. Frieds These lautet nun, dass Menzels besonderer und moderner Realismus in der körperlichen Einfühlung in die dargestellte Wirklichkeit liege. Damit mache er eine Realität sichtbar, die unter der Oberfläche des visuell Wahrnehmbaren zu finden sei.

Petrit Halilaj und Roman Ondák gelingt es tatsächlich, mehr zu zeigen, als die simple Betonverschalung oder die Garderobenanlage auf den ersten Blick preisgeben. In ihren ernormen Ausmaßen wirkt etwa Ondáks Garderobe einschüchternd und einladend zugleich, das großzügige Platzangebot scheint den Gast zu ehren und erklärt ihn zugleich zur Masse Mensch.

Einen solchen gedanklichen wie gleichermaßen sinnlichen Mehrwert auch für die anderen Biennale-Arbeiten zu behaupten, fällt allerdings schwer. Das gilt vor allem für die am Oranienplatz zuhauf gezeigten Videos, die in einem – gerne dem Privaten zugewendeten – Dokumentarismus und oft genug auch in einer allzu einfachen Weltsicht gefangen bleiben.

Der Film von Andrey Kuzkin etwa legt seine Performance „Resistance“ (2009) als eine restlos verständliche, eindimensionale Aktion gegen die Verführungen der Medienindustrie offen: Mit Gummihandschuh und Gasmaske schützt sich der Künstler vor dem giftigen Aceton, mit dem er die Farbe von Modezeitschriften und Lifestylemagazinen wischt. Aber natürlich sind die Medien das eigentliche toxische Material, das es zu vernichten gilt. Verständlich ist auch das Video „Les Manifs“ (2009) von Bernard Bazile, der seit Beginn der 90er Jahre sämtliche Protestmärsche in Paris filmt. Aus dieser endlos fortschreitenden Dokumentation destilliert er für jede Ausstellung eine eigene Version. Allerdings schafft es Bazile in seinem Berliner Beitrag nicht, die Bilder so zu montieren, dass sie über den konkreten Anlass der Demonstration hinaus bedeutsam werden – so wie es etwa Minerva Cuevas mit „Dissidence v 2.0“ (2010) gelingt. Auch sie sammelt seit mehreren Jahren Material über Opposition und Widerstand im öffentlichen Raum von Mexiko-Stadt. Freilich verdichtet sie es in einem durchweg überraschenden Bilderbogen.

Zäh entwickeln sich die Innenansichten aus der militarisierten israelischen Gesellschaft, die Ruti Sela und Maayan Amir über ihre Angebote zum Sex gewinnen, die sie in einschlägigen Bars machen. Anders Avi Mograbi, der mit „Details 2&3“ die Besatzersituation in einer bedrängenden Choreografie von Kamera und Mensch sehr effektiv auf den Punkt bringt. Der Künstler und politische Aktivist richtet seine Kamera auf die israelischen Soldaten, die darin einen Angriff sehen, den sie gewaltsam unterbinden wollen. Die Soldaten sind feindselig und furchtsam, also unberechenbar; aber auch der Aktivist wird unangenehm schrill und aggressiv, als er die Soldaten auffordert, endlich das Tor für die palästinensischen Schulkinder zu öffnen, die nach Hause wollen. Ehrlich zeigt er: Die müden Schulkinder haben wenig von seinem hohen moralischen Ton. Ähnlich rabiat geht Mark Boulos in seiner Doppelprojektion „All That Is Solid Melts into Air“ vor, die ihren Titel dem Kommunistischen Manifest entlehnt. Ohne jede vermittelnde Instanz schenkt Boulos sowohl den Börsenhändlern der Chicago Mercantile Exchange auf der einen Leinwand wie auf der anderen den Aktivisten des Movement for the Emancipation of the Niger Delta (MEND), die sich gegen das Umweltmassaker des Erdölförderers Royal Dutch Shell wehren, Gehör und Präsenz. Sicher drückt sich in dem Satz des Aktivisten kein ganz neues Verhältnis zur Wirklichkeit aus, wenn er sagt: „We believe in killing idiots“; neu dürfte allerdings sein, dass diese Aussage im Moment global gefährlich an Sympathie gewinnt.

Sturm und Alltag

Auch wenn ein neues Verhältnis der Kunst zur Realität auf der 6. Berlin Biennale noch nicht recht sichtbar wird, mag man der Auswahl den Respekt nicht versagen. Er zwingt sich über ein ungewohnt respektvolles, emphatisches Verhältnis der Kuratorin zu ihren Künstlern auf, das in dem Raum zum Ausdruck kommt, den Kathrin Rhomberg ihnen gibt: viel Raum, schönen, lichtdurchfluteten Raum am Oranienplatz; oder speziell ausgesuchten Raum, den die Künstler alleine bespielen dürfen, wie George Kuchar in der Industriehalle am Mehringdamm 28 oder wie John Smith in einer ehemaligen Kneipe in der Dresdener Straße 19.

George Kuchars „Weather Diaries“ sind eine Entdeckung. Seit 1985 entstehen sie in El Reno in Oklahoma, wenn dort im Mai die Tornado-Saison beginnt. Dann bezieht Kuchar ein billiges Motelzimmer in der Kleinstadt und richtet seine Videokamera auf das, „was draußen wartet“ – wie der Titel der 6. Berlin Biennale lautet. Die Diskrepanz zwischen den dramatischen Filmgemälden, die der Sturm liefert, und den banalen Bildchen vom Alltagsleben im Mittleren Westen, gerne untermalt von kitschiger Unterhaltungsmusik, ist von erhellendem Witz. Ganz ähnlich der aufklärerischen Komik von „The Girl Chewing Gum“ (1976) des Londoner Filmemachers John Smith. Smith filmt eine Straßenecke, wobei er im Off voraussagt, was gleich passieren wird. Die vermeintlichen Regieanweisungen sind ein nachträglicher Kommentar. Im Lauf des Films nimmt er immer absurdere Züge an, Züge, die dann auf das Medium selbst und seine Konventionen und Standards zielen.

■ Bis 8. August, Katalog 14,95 €, Reader 25,00 €, Infos zu Ausstellungsorten und Sonderveranstaltungen: www.berlinbiennale.de