Linke verschiebt Zerreißprobe

Das Urteil legt zwar Privatisierungen nahe, dennoch will die Linkspartei ein rot-rotes Bündnis schmieden. Das Motto: höhere Schulden, dafür keine weiteren Sparopfer

Der Tipp des Verfassungsrichters dürfte die nach Karlsruhe gereiste Linkspartei-Spitze geschockt haben. Als Vizepräsident Winfried Hassemer das Urteil gestern Morgen begründete, erwähnte er ganz nebenbei den möglichen Erlös für die städtischen Wohnungen Berlins – bis zu 5 Milliarden Euro. Da stand sie im Raum, die Horrorvision vom Komplettausverkauf. Sie könnte das rot-rote Bündnis sprengen, noch bevor der Koalitionsvertrag unterschrieben ist.

Prompt meldeten sich die zu Wort, die schon immer dagegen waren: „Jetzt unter dem Vorzeichen einer noch schärferen Spar- und Privatisierungspolitik erneut in die Koalition einzutreten, wäre politischer Selbstmord“, sagte die Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht. Sie gehört der Kommunistischen Plattform an, einer innerparteilichen Gruppe, die strikt gegen jede Regierungsbeteiligung ist.

Die Sprachregelung der Berliner Linkspartei war gestern eine andere. Sie lautet: weiter so. „Weitere Sparopfer wären Selbstzweck ohne Auswirkungen auf die reale gesellschaftspolitische Handlungsfähigkeit des Landes“, gab Landeschef Klaus Lederer den Kurs vor. Auch wenn niemand mit dem Schlimmsten rechnete, hatten SPD und Linkspartei zuvor gemeinsam den Gedanken durchgespielt, keinen Cent vom Bund zu bekommen. Lederers Partei will nach wie vor mitregieren, aber ihre Ziele – kein Wohnungsverkauf, keine weiteren Sozial- und Bildungskürzungen – nicht antasten. Dafür nimmt sie noch höhere Schulden in Kauf. „Jetzt mit dem Angstsparen zu beginnen, wäre die falsche Strategie“, sagt Haushaltsexperte Carl Wechselberg.

Dahinter steckt das Argument: Die Zinsbelastung der Stadt ist mit rund 2,5 Milliarden Euro im Jahr so immens hoch, und sie steigt so rapide an, dass das Land es nicht schaffen kann, diese Spirale zu unterbrechen – egal wie viele Unis und Theater es schließt. Der Verkauf aller Wohnungsbaugesellschaften würde rund 200 Millionen Euro Zinsen sparen, rechnet Lederer vor. „Dieser Gewinn löst sich aber sofort in Luft auf, wenn der Zinssatz des Berliner Schuldenbergs nur um ein Viertel Prozent ansteigen würde.“ Dies sei aber nicht unwahrscheinlich.

Trotz aller Beteuerungen der Führung könnte das Urteil für das rot-rote Bündnis zur Zerreißprobe werden. Nach der Wahlniederlage der Partei am 17. September beäugt die Basis weitere Sozialkürzungen misstrauisch wie nie – und dass die Linkspartei ihre Vorstellungen im Koalitionsvertrag durchdrückt, ist längst nicht gesagt. Zwar betonte SPD-Parteichef Michael Müller gestern: „Unter schwierigeren Bedingungen bleiben unsere Prioritäten die gleichen: soziale Stadt, Bildung, Kultur und Wissenschaft.“ Aber Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) will den Verhandlern am Montag neue Zahlen vorlegen. Nach diesen könne das Land bis 2011 einen Primärüberschuss von 1,5 Milliarden Euro im Jahr erzielen, um schrittweise Schulden abzubauen, so Sarrazin. Ein solcher Überschuss im Haushalt – die Zinszahlungen sind dabei herausgerechnet – ist ohne weitere Einschnitte nicht zu schaffen.

Es kommt also darauf an, wer härter verhandelt und wie egal den Parteien weitere Schulden sind. Wechselberg kündigt bereits an: „Wir werden nicht nachgeben, sollte Sarrazin in größerem Umfang weitersparen und privatisieren wollen.“ Und die Grünen stünden im Zweifel bereit. „Wir würden uns vor der Verantwortung nicht drücken und ein Angebot der SPD prüfen“, so Fraktionschef Volker Ratzmann gestern. ULRICH SCHULTE