Die Demonstration der Aktiven

80.000 Menschen protestieren gegen den Sozialabbau der schwarz-roten Bundesregierung. Die viel diskutierte Unterschicht findet sich nicht unter den Demonstranten – zumindest will sich so niemand selbst definieren. Eine Demo-Typologie

von Markus Wanzeck

Paul (33), Arbeitsloser aus Neukölln: Der große, schlaksige Kerl hat sich das Demonstrationsmotto zu Herzen genommen und in einen persönlichen Leitspruch übersetzt. „Solange es Geld gibt, wird es nicht genug für alle geben“, steht auf seinem Schild. Mit den Argumenten, die an diesem Tag von Gewerkschaftsseite gegen das rot-schwarze Regierungsprogramm hervorgebracht werden, möchte er sich nicht aufhalten. Ihm geht es um mehr. Nicht um Detailfragen, sondern um eine endgültige Antwort: „Endlich den Motor des Kapitalismus auszuschalten, der die Leute blind dazu antreibt, aus Geld mehr Geld zu machen.“ Leicht ist es nicht, diesen Motor ins Stocken zu bringen. Das weiß Paul. Doch er tut, was er kann. Bei der letzten Bundestagswahl hat er absichtlich ungültig gewählt. Als abgehängtes Prekariat empfindet er sich nicht – im Gegenteil: „Die Gesellschaft will mich ja – will, dass ich Geld verdiene, ausgebe und mich ins kapitalistische System eingliedere!“

Max (18), Schüler aus Pankow: Max entrollt das Banner der „sozialistischen Jugend“. Er trägt einen dunklen Kapuzenpulli und eine schwarze Sonnenbrille. Der Gymnasiast sieht die Demo als Plattform, um auf Kürzungen im Schulbereich aufmerksam zu machen. Im September hatte er bereits mit der Initiative „Bildungsblockaden einreißen“ einen Schülerstreik organisiert.

Als Teil des „abgehängten Prekariats“ sieht auch er sich nicht. „Aber selbst als privilegierter Jugendlicher, als Schüler eines Gymnasiums, fühle ich mich immer bedrängter von Kürzungen im Bildungsbereich.“

Erik Vormann (63), Rentner aus Bad Brahmstedt: Seit vier Uhr morgens ist Erik Vormann auf den Beinen, um rechtzeitig aus Schleswig-Holstein nach Berlin zu kommen. Der ehemalige Krankenkassensachbearbeiter fuhr mit einem der Busse, die zu Hunderten die Straße des 17. Juni zuparken. Er macht einen wachen und entspannten Eindruck. „Mir selbst geht es eigentlich recht gut“, sagt Vormann. Aber damit es den Jüngeren nicht immer schneller immer schlechter gehe, dafür sei er nach Berlin gekommen. Vormann ist Ver.di-Mitglied. „Inzwischen aus Überzeugung“, fügt er hinzu. „Früher hatte ich noch an die Leistung des Einzelnen geglaubt“, erklärt er. „Damit ist es vorbei.“

Vormann ist allein nach Berlin gekommen. „Viele, die ich heute hier erwartet hätte, sind nicht da. Vielleicht haben tatsächlich schon viele resigniert“, befürchtet er.

Petra Miethke (44), Bürgerberaterin, und Monika Böttcher (47), Sozialarbeiterin, Strausberg: Die Sprüche auf ihren Schildern sind wenig originell. Eher wütend. Petra Miethke und Monika Böttcher arbeiten für den Arbeitslosenverband (ALV) in Strausberg, Brandenburg. „Ehrenamtlich“, sagen sie. Und erläutern dies umgehend: „Also ohne Bezahlung“. Sie leben von Hartz IV. Sie beraten Erwerbslose, die oft überhaupt keine Ahnung hätten, welche Hilfen ihnen zustünden. „Dieses Nichtwissen liegt im Interesse der staatlichen Stellen“, platzt es aus Miethke heraus. Böttcher sieht sich ebenfalls als Kämpferin gegen einen Staat, der seine Bürger sehenden Auges auf das Abstellgleis leitet. Sie wird laut: „Die Regierung sollte nicht vergessen, dass wir schon einmal eine friedliche Revolution hatten.“ Ob das auch jetzt eine Option sei? „Frau Merkel sollte sich jedenfalls nicht zu sicher fühlen!“

Fühlen sich die beiden als Teil der resignierenden Unterschicht? „Nein“, sagen sie. Erst zögernd. Dann entschieden. „Wir haben zwar wenig Geld, sehr wenig. Aber wir geben uns nicht auf und helfen anderen“, sagt Böttcher. Und sie geben die Hoffnung in die Gestaltungsmacht der Politik nicht auf. „Wählen gehen – das ist erste Bürgerpflicht“, ruft Miethke und fädelt sich wieder in den Demonstrationszug ein.

Olaf (41), Dresden, arbeitslos: Wieder einmal wird Olaf gebeten stehen zu bleiben. Sein Hund ist ein beliebtes Fotomotiv. Er trägt kleine Pappschilder. „Krank trotz Krankenkasse“ steht auf einem. Auf einem anderen: „Mindestlohn statt Dampinglohn“. Olafs Kameraden vom „Dresdner Bündnis gegen Sozialkahlschlag“ warten ungeduldig. Zu oft werden sie angehalten heute. Andererseits freut sie die rege Aufmerksamkeit. Seit zwei Jahren ist der Bauarbeiter ohne Job – aus gesundheitliche Gründen, betont er. Wenn er gesund wäre, könnte er arbeiten, beruhigt er sich.

Bruno Bischof (50), Erwerbsloser aus Hamburg: Er ist aus Hamburg gekommen. Teils auf dem Rad, teils als Tramper – mit zusammengeklapptem Rad in der Tasche. „Ich bin arbeitslos. Nein, besser gesagt: erwerbslos. Ich habe immer viel zu tun“, erklärt Bruno Bischof. Er hat sich meist mit befristeten Arbeitsverhältnissen über Wasser gehalten, auch mit 1-Euro-Jobs. Momentan bezieht er Hartz IV. „Natürlich muss man da kürzer treten. Aber für mein Auskommen reicht das Geld.“

Dem „abgehängten Prekariat“ könne man ihn beim besten Willen nicht zurechnen. „Ich definiere mich schlicht nicht über Erwerbsarbeit. Ich verfüge über viele soziale Kontakte und reichlich Bildungskapital“, sagt Bischof. Er spricht über Hannah Arendt und die altgriechische polis. Kritisiert die „neoliberale Ideologie, die das Hirn verbrennt und dabei noch ihren vermeintlichen Schutzpatron, Adam Smith, verhöhnt.“ Er hat Theologie, Germanistik, Philosophie studiert – unter anderem. Er plädiert für ein bürgerliches Grundeinkommen, „das den Menschen ihre Würde lässt und sie nicht stigmatisiert“. Einen Restglauben an die Politik hegt Bischof – er charakterisiert sich als „Noch-Wähler“.

Jenny Zimmermann (22), Studentin aus Halle/Saale: Mit dem Jugendbus der örtlichen „IG Metall Jugend“ ist die Studentin der Russland- und Nordamerikastudien gekommen. „Die Rente mit 67 halte ich für genauso unverantwortlich wie eine 24-monatige Probezeit für Berufsanfänger“, sagt Zimmermann. Als Angehörige der Unterschicht oder des „Prekariats“ fühlt sie sich nicht. Ihrer Familie gehe es verhältnismäßig gut. Von der Arbeitslosigkeit sei diese bislang weitgehend verschont geblieben. Aber überhaupt, „Prekariat“? Das hält Zimmermann für ein fragwürdiges Kunstwort. „Prekariat – yeah!“ Sie lacht. „Das beschönigt alles, weil wahrscheinlich kaum jemand weiß, was er sich darunter vorstellen soll.“