Die Hasen kochen Kaffee im Wald

DOKUMENTATION Die Berliner Filmemacherin Martina Priessner beobachtet in ihrem Dokumentarfilm „Wir sitzen im Süden“ den Alltag von Rückwanderern, der durch alle Raster des hierzulande engmaschigen Bilds der Türkei fällt

Die Protagonisten arbeiten bei deutschen Firmen, ihre Zweisprachigkeit ist ihr Kapital

VON INES KAPPERT

„Vielleicht kommt der schöne Prinz auf dem weißen Pferd ja noch, findet mich und bringt mich nach Deutschland.“ Fatos ist 43 Jahre alt. Sie wuchs im Schwarzwald auf, da, wo ihre Pflegemutter ihr den Hochnebel über den Wäldern wie folgt erklärte: „Am Morgen kochen die Hasen Kaffee im Wald.“ Über diese kleine Geschichte lächelt sie noch heute. Doch als ihr türkischer Vater von ihrer ersten Jugendliebe erfährt, reißt er die Minderjährige aus ihrer Idylle und holt sie gegen ihren Willen „heim.“ Seit über zwanzig Jahren lebt Fatos nun schon in Istanbul, träumt von der Bundesrepublik und kämpft ums ein und andere Visum, um Deutschland zumindest besuchen zu können, ab und an. Letztlich wird sie einen Deutschen heiraten müssen, doch noch steckt ihr ihre letzte Ehe in den Knochen.

Auch Murat verbrachte seine Jugend in Deutschland, und auch er wurde gegen seinen Willen von den Eltern in die Türkei verpflanzt. Sein Trotz ist bis heute unversöhnlich. Als Schwuler, erklärt er, bin ich „für die nur eine Figur, die für ihr Entertainment zuständig ist. Für den wirklichen Murat interessiert sich hier keiner“. Währenddessen streicht der Mann liebevoll den selbst angesetzten Joghurt in der Backform glatt. Den Käsekuchen wird er morgen gut gelaunt seinen Kollegen verkaufen.

Die Bundesrepublik als Land der Sehnsucht? Deutschtürken, die im Süden leben, dem sie nichts abgewinnen können, diese Perspektive ist ungewöhnlich. Sie macht den leisen, fast elegischen Dokumentarfilm von Martina Priessner sehenswert. Zudem kommt „Wir sitzen im Süden“ ohne „Ehrenmord“ und ohne Geschwisterdrama aus, es gibt keine religiöse Bigotterie und kein Kopftuch. Stattdessen zeigt die Berliner Filmemacherin eine Realität, die durch alle Raster des hierzulande engmaschigen Bilds von „der“ Türkei fällt.

Alle von Martina Priessner begleiteten Protagonisten sind zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, sie arbeiten in Istanbul bei deutschen Firmen, ihre Zweisprachigkeit ist ihr Kapital. „Mein Name ist Ilona Manzke, was kann ich für Sie tun?“ – diesen Satz hat Fatos sicher schon mehrere tausend Male in ihr Headset gesprochen. Mit ihren Callcentern unterhalten deutsche Versandhäuser wie Neckermann oder Unternehmen wie die Lufthansa kleine deutschsprachige Inseln, sie profitieren vom vergleichsweise niedrigen Lohnniveau. 40.000 Menschen türkischer Herkunft verlassen jährlich Deutschland, um in der Türkei zu arbeiten.

Natürlich weinen nicht alle davon Deutschland hinterher. Die Berlinerin Cigdem hat mit 33 Jahren aus freien Stücken beschlossen, in der Türkei neu anzufangen, und war mit ihrem Job als Managerin im Callcenter zunächst sehr zufrieden. Den deutschen Pass hat sie in der Tasche, und so vermisst sie nichts, vom Istanbuler „Ersatzdeutschland“ hält sie sich lieber fern. Ihre Freude über die neue Heimat markiert die entscheidende Differenz: Wer Reisefreiheit besitzt, braucht den verlassenen Ort nicht zu mystifizieren, denn er kann jederzeit wieder aufgesucht werden. Fatos, Murat oder auch der dritte im Bunde, Bülent, hingegen haben als „Passtürken“ ihre Wahlfreiheit eingebüßt. Sie sitzen buchstäblich fest und diese kränkende Unfreiheit verkraften sie schlecht.

Priessners Dokumentarfilm zeigt Alltag. Er zeigt Leute, deren Leben unspektakulär verläuft, die trotz Schicksalsschlägen nicht durchdrehen, die niemandem wehtun, die – mit Ausnahme der Managerin – traurig sind und keinen Plan haben, wie sie ihrer Tristesse entkommen könnten. Priessners Protagonisten sind Teil der mehr oder weniger gesichtslosen Masse. Und so wohltuend die Behutsamkeit ist, mit der die Regisseurin die Gespräche führt – man hätte doch gern mehr von den Personen erfahren. So leidet der Film an der Interviewführung, der es nicht gelingt, die Charaktere schärfer zu konturieren. Dabei hat man nicht den Eindruck, dass die Befragten keine Auskunft geben wollten. Eher scheint es ihnen an Fragen zu fehlen, die helfen würden, sich selbst besser zu verstehen, die ihnen erlaubten, ihr Leben auch mal aus einer Außenperspektive zu betrachten.

So aber nehmen sie aus dem Flirt mit der Kamera und den vielen Gesprächen mit der Regisseurin offenbar wenig mit. Es gibt keine Entwicklung – zumindest nicht vor der Kamera. Nach 90 Minuten gleiten Fatos, Murat, Bülent wieder in ihre blasse, sinnentleerte Welt der Dienstleistung, ohne großartig Spuren beim Zuschauer zu hinterlassen. Bei Cigdem ahnen wir nur, dass sie sich einem Burn-out nähert oder ihn bereits hinter sich hat. Die letzte Einstellung zeigt den gleichsam erschöpften Bülent, sein Kopf lehnt an einer Glasscheibe – ein sattgelber Bus mit der Aufschrift „Türkey“ fährt langsam an ihm vorbei. Ein letztes lakonisches Statement der Regisseurin.

■ „Wir sitzen im Süden“. Buch und Regie: Marina Priessner. D/Tr 2010, 88 Min.; fsk-Kino, Segitzdamm 2, tägl. 18 Uhr, heute in Anwesenheit der Regisseurin