theorie & technik
: Oberschicht & Unterchic

Unterschichtler ohne Geld werden als Problem verhandelt, in Gestalt der „neureichen Russen“ mutieren sie zum Faszinosum

Schon die Unterschichtdebatte, die ja über weite Strecken eine Unterchic-Debatte war, zeigte, wie sehr Gerechtigkeitsfragen heute mit Lifestyleaspekten verschränkt sind – so sehr, dass oft kaum mehr unterschieden werden kann, ob denn nun eine eher soziale oder eher eine lebenskulturelle Frage verhandelt wird. Die kuriose Volte davon ist dann, wenn ein Mann, der bartmodetechnisch in den Fünfzigerjahren stecken geblieben ist – und der schon aus diesem Grund in einem modernen Unternehmen niemals eine Chance hätte –, einen anderen Mann anblafft, er solle sich waschen und rasieren, dann würde er schon einen Job bekommen.

Eine andere Art von Unterschicht präsentieren die Soft-News-Sendungen, aber auch die Feuilletons regelmäßig zum Jahreswechsel: die neureichen Russen. Sie kaufen in den Wintersportorten allen Klunker auf, tragen ihre bodenlangen Chinchilla-Mäntel spazieren, schlürfen aber gerne auch in Badelatschen und Trainingsanzügen durch die teuersten Luxushotels. Seien wir ehrlich: Die meisten sind Mafiosi, und alle, aber wirklich alle, sind protzige Möchtegerns, die in uns Peinlichkeitsgefühle auslösen.

Nicht aufregen, habe ich zu aufklärerischen Zwecken so apodiktisch hingeschrieben. Lösen sie doch in uns exakt jene Peinlichkeitsgefühle aus, die seit jeher die Neureichen und Parvenüs in den etablierten Oberschichten weckten. Was den Aristokraten des 17. Jahrhunderts die Vulgarität der „Bürgerlichen“ ist den postmaterialistisch verfeinerten westlichen Metropolenbewohnern des 21. Jahrhunderts der neureiche Russe.

Dabei ist die Kategorie „neureich“, so treffsicher sie in pejorativer Hinsicht auch sein mag, ziemlich fragwürdig geworden. Einstmals war die Sache klar: Da gab es die etablierten Oberschichten mit ihrer Stilsicherheit, dann die Nobilität und das „Old Money“, und dem gegenüber die „Nouveaux Riches“, die „Selfmademen“, die Emporkömmlinge. Oben verfeinerte man die Sitten. Nur indem man den Abstand im Lebensstil zu den Emporkömmlingen behauptete, hielt man die soziale Distanz aufrecht. Gleichzeitig akzeptierten die, die von unten nach oben strebten, die oben als Vorbilder, als Role-Models. Oben hielt man „alles ‚Vulgäre‘ mit betonter Strenge“ aus dem eigenen Lebenskreis fern, beschrieb der große Soziologe Norbert Elias diesen Mechanismus, unten ahmte man „den Adel und seine Manieren nach“.

Das ging so weiter durch die Jahrhunderte. Kaum waren die Bürgerlichen als „Bourgeois Gentilhommes“ – als bürgerliche Edelleute – oben angekommen, warfen sich die Arbeiter in den Sonntagsstaat, setzten sich ihre Demokratenhüte auf und wurden Mittelstand. So fuhr und fuhr der soziale Fahrstuhl, bis er familiär versorgte Bobos, Yuppies, neue Mittelschichten und die meritokratischen Gutverdiener von heute oben hatte – also die stilbewussten Symbolmächtigen, die wissen, wie peinlich es ist, Reichtum und Wohlstand zur Schau zu stellen; die aber auch wissen, wie wichtig es ist, Reichtum und Wohlstand zur Schau zu stellen und die deshalb einen großen Teil ihrer Zeit darauf verwenden, Strategien des möglichst subtilen Zur-Schau-Stellens zu entwickeln.

Deren Kreise stören die neureichen Russen nun. Ein Verhältnis, über das in anderem, aber vergleichbarem Zusammenhang Pierre Bourdieu geschrieben hat: „Wenn der Geschmack der ersten nicht immer so weit reicht wie ihre Mittel, so reichen die Mittel der zweiten fast nie so weit wie ihr Geschmack.“

Was die verfeinerten westlichen Subtilkonsumenten an den protzigen Luxuskonsumenten aus dem Osten freilich am meisten verstört, ist der Umstand, dass diese, anders als Neureiche früherer Epochen, den gehobenen Stil gar nicht mehr als Modell anerkennen. Die Emporkömmlinge früherer Zeiten haben den Stil der Oberen nachgeahmt, und die Peinlichkeit bestand darin, dass sie an dieser Mimikry immer scheiterten. Die heutigen Neureichen wollen gar nicht mehr elegant und bourgeois werden. Erlebte der Neureiche früherer Zeiten eine stete Abfolge von Demütigungen, ist der kulturell Etablierte heute gar nicht mehr in der Position, den Neureichen demütigen zu können, weil die Neureichen ihre kulturelle Deklassierung einfach nicht mehr anerkennen. Sind für den gehobenen Mittelstand des Westens die vulgären Neureichen letztendlich Unterschichtler, die zu Geld gekommen sind, sind für die neureichen Russen die hiesigen verzärtelten Wohlstandsbürger einfach kraftlose Weicheier. Ohne es wahrhaben zu wollen, sehen viele Wohlstandsbürger das womöglich sogar genauso, bewundern sie doch insgeheim die Virilität und Robustheit des Neureichen aus dem wilden Dschungel-Kapitalismus. Und nach und nach kopiert nun selbst das „Old Money“, damit es nicht hoffnungslos von Gestern scheint, den neureichen Stil – man denke nur an Paris Hilton, die Urenkelin des Hotelgründers Conrad Hilton. ROBERT MISIK