Im Rausch der Globalisierung

Vom Hirtendorf zur Reichshauptstadt, vom spirituellen Spa zur globalisierten Boomtown. Die Bhagwan-Kommune machte einst die indische Stadt Poona weltweit bekannt. Heute ist das Osho International Meditation Resort eine Luxusanlage

VON RAINER HÖRIG

„Hey, Swami“, riefen die Rikscha-Fahrer von Poona einst jedem Bleichgesicht zu, denn fast alle Besucher aus dem Westen suchten Selbsterfahrung und Erleuchtung in der Kommune des Bhagwan Shree Rajneesh. Jahr für Jahr reisten Zigtausende aus aller Welt zum Meditieren nach Poona. Ihre weinroten Roben färbten ein ganzes Stadtviertel, die Zeitungen berichteten von ausgelassenem Straßenkarneval zu Ehren des „Meisters“.

Heute werden Westler hier nicht mehr automatisch als „heilige Männer“ betrachtet. Die Straßen rund um das Osho International Meditation Ressort, wie sich die Kommune jetzt nennt, sind längst zur Normalität zurückgekehrt. Rote Roben sind selten geworden, ihre Träger haben graue Haare bekommen. Die Kommune des „Sex-Gurus“, einst berühmt und berüchtigt für ihre Freizügigkeit, hat sich eingeigelt.

Vor ihren Toren sind uniformierte Wachmänner postiert, Außenstehende werden auf dem Gelände nur im Rahmen von Führungen geduldet. Souvenirhändler klagen über schlechte Geschäfte. „Im Vergleich zum vergangenen Jahr sind die Tagesumsätze auf ein Zehntel geschrumpft“, jammert Manjoor, der nahe der Kommune Handwerkskunst aus Kaschmir verkauft. Der Glanz der Kommune ist vorbei.

Bhagwan würde diese Entwicklung kaum überraschen. Im indischen Denken ist der Wandel als Lebensprinzip fest verankert. Poona, das nach dem Willen der Stadtväter den ursprünglichen Namen Pune zurückerhielt, symbolisiert den Wandel wie kaum eine andere indische Stadt: vom Hirtendorf zur Reichshauptstadt, vom spirituellen Spa zur globalisierten Boomtown.

Es heißt, Pune sei eine der am schnellsten wachsenden Städte Indiens. Während der vergangenen zehn Jahre wuchs die Einwohnerzahl um 1 Million auf nun 4 Millionen Menschen. Pune liegt 125 Kilometer südöstlich von Mumbai (früher Bombay) auf dem Dekkhan-Hochland.

Eine große Zahl renommierter Colleges verleihen der Stadt den Titel „Oxford des Ostens“. An der Universität sind 300.000 Studenten eingeschrieben, darunter rund 20.000 Ausländer. Ein Luftwaffenstützpunkt, die nationale Kadettenakademie, der Sitz des Oberkommandos für Südindien sowie mehrere staatliche Rüstungsfabriken sorgen für eine starke Militärpräsenz in der Stadt. Weil Mumbai aus allen Nähten platzt und keine neuen Industrieansiedlungen zulässt, weichen viele Firmen inzwischen auf Pune aus. Aus Deutschland kamen unter anderen DaimlerChrysler, M.A.N., Bosch und die Telekom. Der Volkswagen-Konzern will 2007 ein Pkw-Werk nahe Pune errichten.

Vor achtzehn Jahren hielt mich die Liebe zu einer bezaubernden Frau in Pune fest. Heute weiß ich: Das war kein Zufall. Pune ist eine Stadt mit einer großartigen Geschichte. Das Klima ist hier 550 Meter über dem Meeresspiegel erfreulich mild und nur in den drei Regenmonaten feucht.

Die vielen Colleges und wissenschaftlichen Institute verleihen der Stadt intellektuelles Flair. Pune ist groß genug für eine Metropole, aber nicht so chaotisch und hektisch wie Mumbai. „Ich mag Pune, weil es denkt, weil es zielstrebig ist“, verrät der Schauspieler und Theatermacher Mohan Agashe. „Es gibt einen hohen Anteil an Exzentrikern in dieser Stadt, und das liebe ich. Sie verfolgen zielstrebig, an was immer sie glauben, ganz egal was ihre Mitmenschen davon halten. Pune ist eine Stadt der Denker, wissen Sie!“

Mohan Agashe ist ein waschechter „Puneite“ mit starken Verbindungen nach Deutschland. Er trägt einen Doktortitel und unterhält eine Praxis für Psychiatrie. Agashe gilt aber auch als eine Ikone der freien Theaterszene. Mit seiner Truppe „Theatre Academy“ war er 1980 zu Gast bei den Berliner Festspielen und spielte eine Hauptrolle in dem Stück „Ghashiram Kotwal“, einem historischen Drama über Macht und Willkür in der alten Königsstadt Pune, geschrieben von Vijay Tendulkar in der Regionalsprache Marathi. Jahrelang leitete Agashe die hiesige Film- und Fernsehschule FTTI, die Wiege des indischen Kinos. Einem internationalen Publikum stellte er sich durch eine Gastrolle in Attenboroughs „Gandhi“ vor. In vielen Bollywood-Streifen verkörperte er Bösewichte und Liebhaber.

Während einer Hospitanz am Berliner Grips-Theater 1984/85 schloss Mohan Agashe Freundschaft mit Volker Ludwig und seiner Truppe. Man beschloss, das Grips-Konzept auch in Indien zu verwirklichen. Mit Unterstützung des Goethe-Instituts gelang es Agashe, freie Theatergruppen aus ganz Indien in die Grips-Bewegung einzubinden. „Pune ist nach wie vor das indische Zentrum des Grips-Theaters. Während der vergangenen fünfzehn Jahre haben wir mehr als 4.000 Grips-Aufführungen allein in der Regionalsprache Marathi erlebt“, sagt Agashe. Für seine Pionierarbeit erhielt der Künstler das Bundesverdienstkreuz sowie eine hohe indische Auszeichnung.

Mohan Agashe verabredet sich am liebsten im Vaishali, einem südindischen Restaurant an der Fergusson College Road, das in der ganzen Stadt als Studententreffpunkt bekannt ist. Während unserer Plauderei stellt sich heraus, das der populäre Künstler mit dem globalisierten Wandel seiner Heimatstadt hadert: „Heutzutage könnte die Fergusson College Road in jeder beliebigen Stadt der Welt sein, sie ist nicht mehr ‚typisch Pune‘. Der Zustrom von Studenten und Angestellten aus ganz Indien hat die Marathi-Sprecher zur Minderheit degradiert. Ich fühle mich hier wie ein Aboriginal – wie ein Fremder im eigenen Land.“

Es gibt wohl niemanden in dieser Stadt, der den Wandel mit vollem Herzen begrüßt. Häufig entzündet sich die Kritik am chaotischen Verkehr, der zu unbeschreiblicher Luftverschmutzung und Lärm führt. Korruption in der Stadtverwaltung sei für den schlechten Straßenzustand verantwortlich, der miserable öffentliche Nahverkehr verleite immer mehr Menschen zur Anschaffung eines Motorrads oder Autos, meinen Kritiker wie Sujit Patwardhan, der das Bürgerforum Pune Traffic and Transit Forum mit begründete: „Ich freue mich, dass immer mehr Menschen ein Auto kaufen können. Aber ich fürchte auch, Autofahren könnte bald mehr Pein als Freude sein. Unsere Städte ersticken am Verkehr, die Atemluft wird immer schlechter.“

Wandel heißt auch Vertreibung. Im frühen 19. Jahrhundert übernahmen die Briten die Herrschaft der Stadt und stürzten das Herrschergeschlecht der Marathas, das einst halb Indien regierte, vom Thron. Später trieben billige Industrieprodukte Töpfer und Kupferschmiede aus dem Herzen der Stadt in die Vororte. Heute verdrängen Autos die Bäume der Stadt, alte Villen weichen modernen Einkaufszentren. Doch überall in der Stadt trifft man auch heute noch auf Zeugen der bewegten Geschichte.

Im Herzen der Altstadt steht die leere Hülle einer Burg mit einem imposanten Eingangstor. Hier residierten die Marathas, deren berühmtester Spross, Shivaji, das Mogulreich herausforderte und seine Truppen bis nach Delhi marschieren ließ. Nach dem Sieg der Briten im 18. Jahrhundert verfiel der Herrschersitz, die Paläste wurden durch Feuer zerstört. Heute steht nur noch die Außenmauer, die als Kulisse für kulturelle und politische Veranstaltungen dient.

Die nahen Gassen der Altstadt versprühen auch heute noch die Atmosphäre eines orientalischen Basars. Jedes Jahr im September, wenn die Bürger das einwöchige Fest zu Ehren des Hindugottes Ganesch feiern, schlängeln sich unzählige Prozessionen durch die Altstadt. Tausende große und kleine Statuen der elefantenköpfigen Gottheit werden mit Pauken und Trompeten zum Fluss getragen und dort versenkt, den Elementen der Natur geopfert. Der Intellektuelle Lokamanya Tilak transformierte die Verehrung des Glücksbringers Ganesch zur öffentlichen Parade, um die Hindus verschiedener Kasten für den Kampf gegen die Briten zu mobilisieren.

Am östlichen Ende der Stadt steht ein weißer Palast mit barocken Türmchen, den der Aga Khan, Oberhaupt der muslimischen Ismailiten, als Sommersitz nutzte. In den 1940er-Jahren waren hier Mahatma Gandhi und seine Frau Kasturba von den Briten interniert worden. Kasturba starb nach schwerer Krankheit und wurde hier eingeäschert. Ein bescheidenes Monument an der Rückseite des Palastes erinnert an das tragische Ereignis. Gandhis Anhänger betreuen heute ein Museum im Aga-Khan-Palast.

Mittelalterliche und jüngste Geschichte sind verbunden durch die Bund Garden Road, eine Art Boulevard der Globalisierung. Hier ist der Wandel bereits komplett vollzogen: Die alten Kolonialvillen, die früher die Prachtmeile von Pune säumten, sind verschwunden. In nahezu geschlossener Front präsentieren sich hier Glas- und Aluminiumpaläste – Einkaufszentren, Software-Parks, Luxushotels, Bankfilialen. Ich muss Mohan Agashe Recht geben: Hier sucht man vergebens nach der Seele von Pune.

Aber das ist keineswegs das Ende des Booms. Seit kurzem gestattet die Stadtverwaltung den Bau von Hochhäusern mit bis zu 100 Meter Höhe. Auf Druck der Geschäftswelt sucht die Stadtverwaltung geeignete Ländereien, um einen internationalen Flughafen zu bauen. Presseberichten zufolge soll auch die deutsche Lufthansa Interesse an Direktflügen aus Frankfurt angemeldet haben.

Die deutsch-indische Handelskammer in Mumbai rechnet damit, dass sich in den kommenden Jahren weitere deutsche Firmen in Pune und Umgebung niederlassen werden. In Zukunft wird man die Deutschen von Pune nicht mehr in der Bhagwan-Kommune, sondern auf dem Golfplatz finden.