Die Gefürchtete

Sie hat Unglaubliches erreicht: Sie hat Familienpolitik zum Mainstream gemacht Wäre da nicht die Kanzlerin – „die Dame wäre längst weg vom Fenster“

VON HEIKE HAARHOFF

Der Herr im Maßanzug wird rot. „Verehrte Frau Ministerin von der Leyen“, er räuspert sich, „ich möchte Ihnen versichern: Ich gehöre zu Ihrem Fanclub.“ Tosender Beifall im Saal. Eine Frau meldet sich: „Ich möchte keine Frage stellen, ich möchte Ihnen sagen: Machen Sie weiter so!“

Frau Ministerin Ursula von der Leyen, derzeit wegen der Revolutionierung der deutschen Kleinkindbetreuung in aller Munde, hat ein Heimspiel hinter sich. Vor 500 Gästen der Industrie- und Handelskammer in Frankfurt am Main hat sie gesprochen. Über den „Erfolgsfaktor Familie“. Am Ende kommt heraus, was in ihren Reden immer herauskommt: dass Deutschland, will es am Markt bestehen, in der Kinderbetreuung schleunigst europäisches Niveau erreichen müsse.

Die Bundesfamilienministerin streicht ihr langes blondes Haar zurück, sie lächelt gewinnend und sagt: „Es gibt da dieses schöne chinesische Sprichwort. Wenn der Wind des Wandels weht, dann bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“ Sie sieht jetzt aus wie eine Fee, die jemand versehentlich in einen dunklen Hosenanzug gesteckt und mit einer Stimme ausgestattet hat, die keinen Widerspruch duldet. „Ich, meine Damen und Herren“, ruft sie, „ich möchte, dass wir Windmühlen bauen!“

Die Zuhörer liegen ihr zu Füßen. Sie bilden die erfolgreiche Mittelschicht in einer westdeutschen Boomregion, sie sind die Klientel, die die Ziele der Ministerin teilt. Die Frauen hier haben anspruchsvolle Jobs. Die Männer finden gebildete, berufstätige Frauen attraktiv. Ihre Kinder sind Wunschkinder. Was ihnen fehlt, ist eine gute, erschwingliche Betreuung. Mancher lässt die Nanny aus Großbritannien kommen, weil die Chance auf einen Krippenplatz in Westdeutschland bei absurden 7,8 Prozent liegt. Ursula von der Leyen spricht ihnen aus dem Herzen. Sie lassen es sie spüren. Es tut ihr gut.

Die Familienministerin fährt Achterbahn, seit sie vor Wochen in einem Interview die Zahl 750.000 Krippenplätze bis 2013 setzte. 750.000 Plätze, das entspricht einer Verdreifachung des heutigen Angebots für die unter Dreijährigen. Von den Wählern umjubelt – drei Viertel aller Deutschen unterstützen ihre Vorschläge –, musste sie erleben, wie Politiker, vor allem aus ihrer CDU, sie behandelten wie eine Ketzerin. Sie hatte europäisches Mittelmaß verlangt.

Inzwischen ist die Bedarfsfrage vom Tisch. Bund, Länder und Gemeinden haben von der Leyen auf dem „Krippengipfel“ letzte Woche in Berlin vom Vorwurf der Übertreibung freigesprochen. Doch jetzt geht es ums Geld. Und wieder lauern Feinde. Derzeit sind es Haushalts- und Finanzpolitiker, die im Angesicht ihres wankenden konservativen Weltbildes Amok laufen, noch bevor die Ministerin ihr Konzept vorgelegt hat.

Es gibt in Deutschland kein entspanntes Verhältnis zu der Frage, wie Kinder aufwachsen sollten. Keine Diskussion ohne Rechtfertigungsdruck. Jeder will jedem sein Lebensmodell aufzwingen. „Was wir erleben“, glaubt die CDU-Bundestagsabgeordnete Hildegard Müller, „ist das Spiegelbild dieser Debatte.“ Der Ministerin geht es um unideologische Lösungen.

Ursula von der Leyen, 48 Jahre, verheiratet, sieben Kinder. Tochter des früheren niedersächsischen CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht. Promovierte Ärztin. Politische Seiteneinsteigerin mit Blitzkarriere: 1990 Eintritt in die CDU, 2003 Sozialministerin in Niedersachsen, 2005 Bundesfamilienministerin. Ein Leben ohne Brüche, das die bange Frage aufwirft: Was noch?

Von der Leyen hat binnen eineinhalb Jahren erreicht, was keiner ihrer Amtsvorgängerinnen gelungen ist: Sie hat Familienpolitik zum Mainstream gemacht. Sie überrumpelt mit Ideen, die bei den Wählern ankommen und mit der Fraktion selten abgesprochen sind. Wäre da nicht die sie protegierende Kanzlerin, „die Dame mit ihren Alleingängen wäre längst weg vom Fenster“, maulen Parteikollegen.

Die Dame überhört derlei. Von der Leyen lässt keinen Zweifel, dass und vor allem wie sie ihre Vorstellungen umzusetzen gedenkt: eigenständig. Wer ihren Reden der letzten Wochen zuhörte, konnte das Wort „CDU“ darin an einer Hand abzählen. Lieber erwähnte sie „ich“, „mir“ und „mich“. Wahlweise, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, „uns im Familienministerium“.

„Sie verkörpert einen neuen Frauentypus innerhalb der CDU“, sagt der Historiker Paul Nolte, „sie kommt ohne den Gestus der Bescheidenheit und der Dankbarkeit aus, dass sie in der Politik dabei sein darf.“ Ihre Amtsvorgängerin Renate Schmidt (SPD) meint: „Sie ist sicher keine Theoretikerin. Ihr geht es darum, praktische Politik zu machen aus einer höchst persönlichen Lebenserfahrung heraus.“ „Es spricht für ihr Selbstbewusstsein, dass sie nicht parteipolitisch argumentiert“, sagt tapfer der Vorsitzende der CDU-Landesgruppe Niedersachsen im Bundestag, Enak Ferlemann. „Schließlich will sie kein CDU-Problem lösen, sondern ein Problem von Deutschland.“

Die Ministerin selbst hält sich nicht mit Spekulationen auf – weder über ihr Amt noch über ihre Rolle in der CDU. Sie sagt: „Ich habe die Aufgabe, zum Thema Familie für die Union ein Bild zu zeichnen, das unter Anerkennung der Tatsachen den Spannungsbogen aufzeigt zwischen der Modernität und den Werten, die uns wichtig sind. Dass dieser Spannungsbogen lebbar ist, möchte ich in die Union hineintragen.“

Sie hütet sich davor, zu sagen: Ich will die Partei modernisieren. Oder auch nur: Ich will die Programmatik voranbringen. Ursula von der Leyen schafft Fakten. Christdemokraten wie Fraktionsvizechefin Ilse Falk werfen ihr vor, sie erwecke den Eindruck, Erwerbstätigkeit sei das einzig gewünschte Lebensmodell. Sozialverbände klagen, kaum noch Gehör im Ministerium zu finden, von der Leyen gehe es nur um die Umverteilung von unten nach oben sowie um ihre Außenwirkung. Über derlei rollt sie hinweg. „Wir haben keine Zeit, wir müssen schneller werden“, lautet einer ihrer Sprüche, wenn ihr Diskussionsbedarf gedeckt ist. Sie weiß doch, was gut ist.

Ein Frühlingstag in Wesel am Niederrhein: Die Ministerin weiht ein Mehrgenerationenhaus ein. Nach dem Vorbild einer Großfamilie sollen sich hier junge und alte Menschen gegenseitig unterstützen; der Bund gibt dafür jährlich 40.000 Euro. Die Ministerin nascht von den Plätzchen des Hauswirtschaftsservice, sie setzt sich im dunklen Hosenanzug in den Sandkasten und buddelt mit den Kindern.

Sie macht alles richtig. Das ist ihr Problem.

Sie ist herzlich, sie ist witzig, sie ist praktisch. Doch sie bleibt unnahbar. Sie schüchtert ein. Die Frauen hier tragen nicht Größe 36, wenn sie mehrere Kinder geboren haben. Sie sind Galaxien davon entfernt, mit einem französischen Kamerateam in dessen Landessprache scherzen zu können. Sie haben Männer, die auf Montage gehen, damit die Kasse stimmte. Oder die lieber in der Eckkneipe versacken, statt daheim Gutenachtgeschichten vorzulesen als „aktive Väter“, von denen die Ministerin gern redet.

„Die Albrechts hatten schon immer ein eigenes Verständnis von Moderne“, sagt der frühere Diplomat Karl-Heinz Narjes (CDU). In den 50er- und 60er-Jahren arbeitete Narjes in Brüssel mit Ernst Albrecht am Aufbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. „Der hat seine Kinder damals ganztags zur zweisprachigen Europaschule geschickt.“ Narjes ist noch heute voller Bewunderung. „Dem Ernst Albrecht ging es nie um die CDU, sondern um das, was er für richtig hielt. Gucken Sie sich den Vater an, dann wissen Sie, wie die Tochter ist“, empfiehlt er.

Also guckt man sich den Vater an. Albrecht ist heute 77 Jahre alt, und abgesehen davon, dass ihm sein Gedächtnis mitunter Streiche spiele, sagt er, sei er „dankbar für dieses glückliche Leben“, das ihm „eine wunderbare Frau“, sieben Kinder und 27 Enkel geschenkt habe. Zudem ein Anwesen in Niedersachsen mit sechs Hektar Land, wohin demnächst übrigens auch Tochter Ursula samt Familie ziehen werde.

Er ruht in sich. Man kann sich vorstellen, wie leicht dieses Glück, so offen zur Schau gestellt, Menschen provozieren kann, deren Leben weniger zufriedenstellend verlaufen ist. „Ich“, erzählt er, „habe meine Kinder so erzogen, dass sie irgendwann im Leben für das Gemeinwohl arbeiten sollen und nicht für das Private.“ Nichts anderes tue seine Tochter: „Sie kümmert sich um das Gemeinwohl in diesem Land.“ Da klingt es wieder durch, dieses aristokratisch anmutende Besserwissertum.

Die Ministerin kann in Wesel derweil noch so oft betonen, ihr gehe es nicht darum, „Lebensstile gegen Lebensstile auszuspielen“. Viele hier fühlen sich trotzdem in Frage gestellt. „Ich“, sagt die 70-jährige Vertreterin der Frauenhilfe, „war mit meinen drei Kindern immer zu Hause.“ Sie hat Tränen in den Augen. „Ich glaube, ich war eine gute Mutter.“ Das hat ihr doch niemand abgesprochen? „Für mich klingt es aber so“, beharrt sie.

Vor dem Mehrgenerationenhaus hält eine Staatskarosse. Die Ministerin verschwindet im Fond. „Guck mal“, sagt da einer der höflich hinterherwinkenden Gäste, „da sitzt ja auch ihr Mann im Wagen.“ Hm, macht der Nachbar, „der hat bestimmt zu Hause nichts zu melden“. Es klingt wie ein schwacher Trost.