Ein ganzes Leben

DOKUMENTARTHEATER Der deutsch-iranische Fotograf Maziar Moradi führt das Genre an seine Grenzen. Die Ausstellung „Ich werde deutsch“ in der Städtischen Galerie Essen

VON STEFFEN SIEGEL

Es hat sich herumgesprochen: Wer von Menschen mit Migrationshintergrund redet, der zeigt zuletzt eigentlich vor allem auf sich selbst. Denn wer am Stammtisch genauso kurz wie kurzschlüssig Ausländer genannt wird, der bekommt in der politisch korrekten Formel einen „Hintergrund“ verpasst, der mehr nach Schatten oder nach dunklem Fleck aussieht als nach echter Chance auf Hiersein und Teilhabe. Irgendwie tönt das Wohlwollen, das dabei mitschwingt, eher angestrengt als wirklich gelassen. Die korrekte Haltung jedenfalls wirkt auf unangenehme Weise kalkuliert.

In Essen kann man sich angesichts solcher Verspannungen gegenwärtig schnell locker machen. Denn so kalkuliert die großformatigen Bilder des Berliner Fotografen Maziar Moradi auch fraglos sind, angestrengt sind sie deshalb keinesfalls. Eine junge Frau sitzt auf einem der Bilder in ihrer Küche und schaut genauso skeptisch wie düster auf ein tiefgefrorenes Huhn, das vor ihr auf dem Tisch liegt. Eine andere Frau ist wiederum umringt von Dutzenden Püppchen, deren aberwitzige Zahl rätselhaft bleiben muss. Beinahe scheint es, als sei diese junge Frau in der sonderbaren Kulisse selbst längst Teil dieser bizarren Sammlung geworden. Eine weitere Fotografie schließlich zeigt eine spektakuläre Verfolgungsjagd, die sich zwei Jugendliche mit der Polizei liefern. Und schließlich können auf diesen Bildern junge Männer auch schwarz gefiederte, riesenhafte Flügel tragen, zum Abflug bereit, ohne dass klar werden würde, wohin eigentlich.

„Ich werde deutsch“, nennt Moradi seine fotografische Serie, die seit 2008 entsteht und als Projekt weiter fortgesetzt werden soll. Gestellt wird in all diesen Bildern eine doppelte Frage: Kann man, von bürokratischen Verwaltungsakten einmal abgesehen, deutsch werden, wenn man es nicht ohnehin schon immer war? Und grundsätzlicher noch: Was überhaupt heißt es eigentlich, deutsch zu sein?

Moradis Fotografien begegnen diesen allzu bedeutungsschweren Fragen in luzider Weise: Gegenstand seiner Bilder sind nicht einfach Porträts von jungen Menschen, die alle längst in Deutschland leben und ebenjenen viel berufenen „Hintergrund“ haben. Stattdessen sind es nicht weniger als ganze Biografien, die den Fotografen interessieren und die in jeweils genau einem einzigen Bild Platz finden sollen.

Streng genommen führt Moradi die Darstellungsmöglichkeiten der Fotografie hier an ihre Grenzen. Denn wie soll man in einem Einzelbild ein ganzes Leben unterbringen? Gelegen kommt da das Stilmittel der größtmöglichen Verdichtung: Jedes einzelne Bild ist einem Schlüsselmoment gewidmet, in dem sich die Erfahrungen der porträtierten Person auf ihrem Weg zum Deutschsein gespiegelt finden. Gezeigt werden hierbei Ereignisse, die genau so geschehen sind – oder womöglich doch ganz anders. Es ist am Ende nicht entscheidend, denn es kommt auf etwas anderes an: Die Personen, die auf all diesen Bilder uns gegenübertreten, werden zu Schauspielern ihrer eigenen Biografie. Vor der Kamera und für uns gut sichtbar werden Erlebnisse, die für den Erfahrungsraum eines ganzen Lebens stehen mögen, noch einmal aufgeführt. Und mit einer zeitlichen Verschiebung, die alle diese Bilder voraussetzen, inzwischen auch anders erlebt?

Bereits Moradis erste fotografische Serie „1979“ machte in beinahe verstörender Weise von dieser Idee einer Konfrontation mit seinem früheren Selbst vor der Kamera des Fotografen Gebrauch. In dieser Serie war es die Exilerfahrung der eigenen, aus dem Iran stammenden Familie, die Moradi mit seinen Verwandten im Abstand von drei Jahrzehnten reinszenierte. Bereits hier, erst recht aber in „Ich werde deutsch“ ist das Ergebnis, gemessen an den Maßstäben der Fototheorie, ein gewitztes Paradox. Alle diese Bilder sind erfundene Dokumente. Sie setzen lange Gespräche des Fotografen mit seinen Modellen voraus. So fantasievoll die Bilder daher gestaltet sein mögen, sie alle erheben gerade jenen Wahrheitsanspruch, den jeder Schnappschuss leichthin für sich behauptet, und vielleicht mit geringerem Recht. Das Vergangene wird hier in einer fotografischen Deutung des Erlebten gegenwärtig.

Stets ist Moradi hierbei ein eigentümlich schweigsamer Fotograf: Keines seiner Bilder trägt einen Titel. Von den dahinterstehenden Geschichten ahnt man mehr, als dass man um sie wirklich wissen kann. Es mögen eigenartige, gewundene, vielleicht auch spektakuläre Lebenswege sein. Wer weiß das schon? Wer mehr erfahren will, der muss, wie dies im Dokumentartheater eben ist, sich in Geduld fassen und sehr genau hinsehen.

■ Bis zum 3. Juli, Städtische Galerie Schloss Borbeck, Essen. Bildband „1979“, Kehrer, 36 Euro