DIE EINE FRAGE
: Das Glück und dein Name

DARF ICH SIE UM NACHSICHT BITTEN, REINHARD MEY? ENTSCHULDIGUNGSSCHREIBEN AN EINEN POETEN

Früher fand ich Reinhard Mey selbstverständlich indiskutabel. Er gehörte einfach zum Gesamtpaket der Zumutungen, gegen die wir Nonkonformisten uns wehrten, indem wir sie a priori ablehnten.

Statt 1968 auf die Barrikaden zu gehen, heiratete er. Dann weigerte er sich auch noch, in komplett übersteigerten Maß an Deutschland zu leiden. Vor allem war er zu sehr Mensch und hatte zu viel Verständnis. Sein gefühlsduseliges Zeug war glatte Verweigerung von politischem Engagement, die bürgerliche Familienhölle wurde verharmlost, Schlager für angepasste Finanzamtsjockel. Als ich es besonders nötig hatte, verfasste ich eine knallharte Konzertkritik. „Banal-halbintelligente Liedchen für politisch im Grunde völlig desinteressierte Menschen“, schrieb ich. Unterirdisch. Nicht er. Ich.

Grundsätzlich fiel auch mir lange nicht auf, dass es politisch und moralisch widersprüchlich ist, wenn die, die nach Toleranz und Akzeptanz anderer Lebensformen schreien, selbst die intolerantesten und elitärsten Abwerter anderer Gebräuche sind, speziell wenn sie von einer demokratischen Mehrheit praktiziert werden. Mein Erweckungsmoment kam auf einem Grünen-Parteitag. Im speziellen Fall Mey hatte ich einfach nicht hingehört, weil ich ja eh wusste, dass das nix sein kann.

Sehr geehrter Herr Mey, ich möchte Sie um Entschuldigung bitten. Reinhard Mey, 71, geboren im Weltkriegsberlin, ist ein großer westdeutscher Popmusiker und Poet. Weit über seine Signature-Songs „Über den Wolken“ und „Gute Nacht, Freunde“ hinaus.

Er wollte nicht die Welt menschlicher machen, indem er selbst unmenschlich wurde, wie die Zeitgenossen in den diversen kommunistischen Irrenorganisationen. Er war im Zweifel links, aber er dachte damals schon frei. Seine Größe verdankt sich nicht den milde gesellschaftskritischen Liedern, nicht den Humor-Songs und schon gar nicht den naiv-radikalpazifistischen Titeln. Sein eigentliches Werk läuft auf die eine Frage hinaus: Worum geht es im Leben wirklich?

Ich will jetzt nicht alles hochloben, der Mey-Sound kann einem auch mal auf die Nerven gehen, aber wenn ich ihn heute höre, dann deshalb, weil er mich das Entscheidende über das Leben gelehrt hat: dass man es selbst leben muss. Und dass sich sein Gelingen im Privaten entscheidet. Das ist weder Eskapismus noch Egoismus und auch keine Absage an öffentliches Engagement. Es ist die Basis dafür.

Meys zentrales Album „Keine ruhige Minute“ erschien 1979; in dem Jahr, als sich die ersten grünen Landesverbände gründeten. Darin beschreibt er im Titelsong, wie Eltern durch ihre Kinder als Menschen wachsen können und in „Zeugnistag“, wie Kinder durch ihre Eltern wachsen können. Damals dachte ich, er sei von gestern.

Er war und ist ganz vorn. Ich habe die Songs gerade noch mal testgehört. Man kann sie als sentimental abtun, klar. Aber wenn man kulturell emanzipiert ist, geben sie einem mehr als „Hey, Hey, My, My“. Wo hat man denn ein bedeutenderes Liebeslied für Erwachsene gehört als „Wie vor Jahr und Tag“? Und wer von „Zeugnistag“ nicht sinnlich und existenziell berührt werden kann, dem entgeht eine ganze Menge.

Man kann nur hoffen, dass derjenige sich nicht damals sterilisieren ließ, weil es als verantwortungslos galt, Kinder in diese Welt zu setzen.

PETER UNFRIED ist taz-Chefreporter