Leicht von der Seite die Weltpolitik erklären

Bewegt sich zwischen Schulfernsehen und Heiligsprechung und lohnt sich doch: der Porträtfilm „Power and Terror: Noam Chomsky – Gespräche nach 9/11“ von John Junkerman

Noam Chomsky hat mit seiner Universalgrammatik das einflussreichste Modell der modernen Linguistik formuliert. Aber die meisten Nicht-Sprachwissenschaftler kennen ihn als politischen Theoretiker und Aktivisten. Nach dem 11. September 2001 brachte Chomsky ein Buch mit dem Titel „9-11“ heraus, das in den USA überraschend zum Bestseller wurde. Es enthielt seine Sicht auf die Hintergründe des Anschlags auf das WTC. Seitdem füllt Chomsky Vortragssäle mit tausenden Zuhörern. John Junkermans Film „Power and Terror“ zeigt Chomsky bei solchen Vorträgen. Dazwischengeschnitten sind Passagen eines langen Gesprächs zwischen dem Filmemacher und Chomsky.

Hört man Chomsky zu, entsteht der Eindruck, Basis seiner radikal linken Parteinahmen seien nicht moralische oder ideologische Überzeugungen, sondern schlichtes Faktenwissen. Die Verbreitung – vor allem aber die Nichtverbreitung solcher Informationen durch die Massenmedien – seien es, die die Überzeugungen der breiteren Bevölkerung wesentlich beeinflussten. Der 11. 9. sei „historisch“ gewesen, allein weil die Opfer US-Amerikaner waren, nicht wegen Art und Ausmaß des Anschlags: Anderen Ländern seien Massenmorde an Zivilisten vertraut. Beispielhaft nennt Chomsky den Einmarsch der US-Armee 1989 in Panama. Bei der Bombardierung eines Stadtviertels seien tausende Zivilisten umgekommen. Terror ist für Chomsky jede Gewalt gegen Zivilisten. Er gibt den USA einen Rat für ihren Kampf gegen den Terrorismus: Sie sollten aufhören, ihn selbst zu praktizieren.

Aber mit Fakten ist es so eine Sache. Laut der Menschenrechtskommission Panamas starben im gesamten Konflikt mit den USA 1989 nicht tausende, sondern ungefähr vierhundert Personen. Davon war ein guter Teil Soldaten, nicht Zivilisten. Vielleicht hat Chomsky Recht, und die Menschenrechtskommission liegt falsch. Vielleicht ist auch die ganze Aufrechnung von Opfern schon ein Fehler. Problematisch an „Power and Terror“ aber ist, dass der Film keinen einzigen Hinweis auf andere Meinungen, Standpunkte und Zahlen als die Chomskys enthält. Es ist ein Film ohne jede Distanz. Meist sieht man Chomsky in zwei Einstellungen: leicht von der Seite bei Vorträgen, leicht von der Seite im Gespräch mit dem Filmemacher. Das führt zu einer inhaltlichen und auch visuellen Eindimensionalität, angesiedelt zwischen Schulfernsehen und Hagiografie. In der bizarrsten Sequenz des Films sprechen Zuhörer nach einem Vortrag in die Kamera. Ein Mann bewundert Chomskys „enzyklopädisches Wissen“. Eine Frau erklärt: „Ich stimme mit allem überein, was er gesagt hat.“ So geht es munter fort: Alle finden Chomsky großartig.

Doch der Personenkult tut weder der Person Chomsky noch seinen Ideen einen Gefallen. Denn Chomsky selbst ist so beeindruckend wie uneitel, wenn er die Weltpolitik mit politisch-ökonomischen Machtstrategien und dem Kampf um Energiereserven erklärt. Auch der europäische Antiamerikanismus kann sich bei Chomsky nicht bedienen. Die USA unterscheide, so Chomsky, nur eines von Ländern wie Frankreich oder Deutschland: Sie seien am mächtigsten und richteten deshalb am meisten Schaden an. Auch für die Weinerlichkeit vieler westlicher Linker hat Chomsky nichts übrig: Sie sollten sich lieber ihres Privilegs bewusst sein, für ihre politischen Meinungen kämpfen zu können, ohne ins Gefängnis zu kommen. „Power and Terror“ ist kein toller Film. Aber Chomsky ist ein toller Mann. Da es sich lohnt, ihm zuzuhören, lohnt es sich auch, diesen kleinen, allzu ehrerbietigen Film zu sehen.

MARCO STAHLHUT

„Power and Terror: Noam Chomsky – Gespräche nach 9/11“. Regie: John Junkerman. Japan 2002, 98 Min.