„Tschernobyl ist ein Skandal für den Sozialismus“

■ Das harte Urteil der ungarischen Untergrundzeitung Beszeloe kennzeichnet die lebhafte Diskussion, die seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in Ungarn geführt wird / Gefordert wird eine bessere Information der Öffentlichkeit über politische Entscheidungen und größere Unabhängigkeit gegenüber der UdSSR

Aus Budapest Hubertus Knabe

Es ist unschwer zu prophezeien: Die demonstrative Verständigung zwischen Ost und West über die weitere Nutzung der Atomenergie, die in diesen Tagen auf Anregung des deutschen Bundeskanzlers in Wien erzielt werden soll, dürfte eines Tages zu den negativsten Kapiteln der Entspannungspolitik zählen. Kaum anderswo setzt sich die „Koalition der Unvernunft“ mit solcher Unverfrorenheit über die Ängste und Interessen der Völker hinweg wie in diesem Punkt. Daß die Furcht vor der Atomenergie nach Tschernobyl nicht nur im Westen, sondern auch im Osten Europas grassiert, kann man derzeit in der Volksrepublik Ungarn beobachten. Langsam, aber unübersehbar hat sich hier in den letzten Monaten ein deutlicher Meinungswandel vollzogen. Besonders unter den Intellektuellen mehren sich jene Stimmen, die offen gegen die Atomenergie Stellung nehmen. „Eine rege Diskussion über den Nutzen und die Risiken der friedlichen Anwendung von Kernenergie“ mußte unlängst selbst der ZK–Sekretär für internationale Fragen, Matyas Szuerös, in einem Interview einräumen. Mitglieder offiziell anerkannter Umweltgruppen zeigen sich mit Anti–AKW–Plakaten auf der Straße bei unabhängigen Umweltgruppen und in der übrigen Opposition beherrscht Tschernobyl seit Monaten die Diskussion. Die Forderung, auch in Ungarn Konsequenzen aus der sowjetischen Reaktorkatastrophe zu ziehen, wurde erstmals im Mai dieses Jahres von der Untergrundzeitung Demokrata erhoben. Unter der Überschrift „Das Signal von Tschernobyl“ wurde dazu aufgerufen, aufzuwachen und endlich auch den für die Atomenergie Verantwortlichen auf die Fingerspitzen zu schauen. Während beim Baubeginn des ungarischen Atomkraftwerkes in Paks durch Desinformation und Einschüchterung, wegen des Konsumstrebens und der Schwäche oppositioneller Bestrebungen in Ungarn völlige Gleichgültigkeit geherrscht habe, müsse dies nun anders werden. Wo es weder eine wirksame Kontrolle noch eine ausreichende Öffentlichkeit gibt, wo aber der Zwang zu Einsparungen eine größere Rolle als im Westen spielt, alles dafür tut, daß kein Unglück wie in Tschernobyl passieren kann? Was spricht angesichts der Lässigkeit und zer störerischen Schlampigkeit auf jedem Gebiet der Wirtschaft, in jedem Industriezweig und auf jeder Baustelle dafür, daß gerade das Atomkraftwerk in Paks eine Ausnahme ist? Kurz darauf meldete sich die unabhängige Umweltinitiative „Die Blauen“: „Wir halten es für wünschenswert, daß das Atomkraftwerk von Paks mittelfristig abgestellt wird und die so ausfallenden Stromkapazitäten durch andere, sanfte Energiequellen ersetzt werden. Das darf jedoch nicht den Bau der Staustufen von Gobcikovo– Bös–Nagyamaros bedeuten, der riesige Umweltzerstörungen zur Folge hätte. Von der ungarischen Regierung erwarten wir frühzeitige genaue Informationen über jede wirtschaftliche und politische Entscheidung, von der die Bevölkerung betroffen ist.“ Die Verwendung von „Supertechnologien“ in einer wenig entwickelten Gesellschaft wurde einige Wochen später auch von der Untergrundzeitschrift A Hirmondo als besonderes Gefahrenpotential der osteuropäischen Atomkraftwerke hervorgehoben. Die Zeitung zitierte als Beleg Berichte aus ungarischen Fachzeit schriften, die die schlampige Ausührung des Baus in Paks und die Unfähigkeit der Verantwortlichen, bei Störfällen zu reagieren, belegten. So konnte im Oktober 1980 ein Großfeuer im AKW stundenlang nicht gelöscht werden, bei Betriebsunfällen kamen bislang elf Menschen ums Leben. „Die detaillierte Kenntnis der Investitionsvorhaben und ihre öffentliche Diskussion“, schreibt das Oppositionsblatt, „ist ein Grunderfordernis“. Anfang September hat sich nun die dritte ungarische Untergrundzeitung, Bezelö, zu den Konsequenzen aus dem Reaktorunglück von Tschernobyl ausführlich geäußert. „Tschernobyl“, so heißt es in einem Kommentar, „ist ein Skandal für die sozialistische Gemeinschaft. Es zeigt mit tragischer Kraft, daß diese Gemeinschaft gerade für die Sowjetunion nicht existiert. Sie kettet die osteuropäischen Staaten an sich, aber gegenüber deren Völker zeigt sie sich vollkommen verantwortungslos.“ Wenn der Wind die radioaktive Wolke nicht nach Skandinavien getrieben hätte, hätte man im War schauer Pakt auch nach drei Tagen noch nichts von der Strahlengefahr gehört. Der ungarischen politischen Führung wirft die Untergrundzeitung vor, daß sie von keiner noch so lebenswichtigen nationalen Frage zu einem selbständigen Auftreten gegenüber dem großen Bruder bewegt werden könnte. Stattdessen habe man den ungarischen Massenmedien gleich nach der Katastrophe die Zwangsjacke angelegt und sich in der Dosierung der Informationen von nun an sklavisch an das von der Sowjetunion diktierte Tempo gehalten. Ein Nachrichtenredakteur des ungarischen Rundfunks, der die ersten spärlichen Eingeständnisse in einem Satz durch westliche Informationen über steigende Radioaktivität in Skandinavien ergänzte, habe schon am folgenden Tag auf Druck der Parteizentrale eine Disziplinarstrafe bekommen. Das labile Vertrauen in den Staat, so beschreibt das Blatt die Stimmung in der Bevölkerung, habe seit vielleicht einem Vierteljahrhundert keinen solchen Rückschlag mehr erlitten wie nach Tschernobyl. „Vielleicht haben sich niemals so viele Menschen für glaubwürdige Informationen auf westliche Sender verlassen wie in dieser Zeit. Auch das offene Geschimpfe unterschied sich vom gewohnten, und es ist offensichtlich, daß auch anti–russische Gefühle mit ungewöhnlicher Heftigkeit und Offenheit an die Oberfläche gelangten.“ Auch die ungarische Opposition, schreibt die Zeitung, müsse Konsequenzen aus dem Reaktorunfall ziehen. Es sei zwar unerläßlich, doch es reiche nicht aus, Ideologie und theoretische Programme auszuarbeiten. Man müsse gesellschaftliche Netze aufbauen, die auch dann der öffentlichen Meinung Ausdruck geben, wenn die Machthaber dies nicht wünschen.“Wieviel Atomkatastrophen bedarf es noch“, fragt die Zeitung die ungarischen Verantwortlichen, „bis wir endlich aufwachen und von unserem Glauben an unsere eigene Allwissenheit geheilt werden, daß wir unsere eigenen Grenzen erkennen und zurückfinden zu menschlichen Maßstäben, zu überschaubarer, dezentraler und sanfter Technik? Denn klein ist nicht nur schön, sondern auch sicher - im Gegensatz zu technologischem Gigantismus.“ Denn auch „die ungarische Regierung muß erkennen, daß für unser kleines Land eine Katastrophe wie in Tschernobyl verhängnisvoll ist!“