: Pokerstimmung und Angst vor der Räumung
Stadt Hannover entscheidet am Mittwoch über die Räumung der seit sieben Jahren besetzten Sprengelfabrik / SPD will Abriß von fünf der sieben besetzten Gebäude / Alternative Stadtteilkulktur paßt den Planern von Grün- und Spielflächen nicht ins biedere Sanierungskonzept für das Sprengelgelände ■ Von Thomas Hestermann
Hannover (taz) – An eine besetzte Schokoladenfabrik in der Hannoveraner Nordstadt sind zahlreiche Wünsche und Ängste geknüpft. Von der „zartesten Versuchung, seit es leerstehende Häuser gibt“, sprechen die rund 50 Sprengelbesetzer. Räumung und Abriß von fünf der sieben besetzten Gebäude steuern jetzt Stadtpolitiker und Verwaltung an.
Das weiträumige Gelände im hannoverschen Univiertel ist vom Verfall gezeichnet. Vor acht Jahren rollten dort Pralinen vom Band, wo sich jetzt Besetzer mit Sperrholzplatten und Plastikplanen ein paar Zimmer abgetrennt haben. In den früheren Verwaltungsgebäuden nebenan sind weitere Wohnungen, Ateliers, ein Cafe und die Kneipe „Sturmglocke“ entstanden. „Es ist ein Ansporn an die Überlebensintelligenz und die Phantasie, aus einer Industriebranche einen Ort zum Wohnen zu machen“, schrieb einer der Bestzer in sein Tagebuch. Der Alltag ist anstrengend. Das Wasser fließt nur aus Kanistern, die improvisierte Stromversorgung bricht alle paar Stunden zusammen, und nur wenige Toiletten sind intakt.
So gingen seit dem Sommer 87, als sich die ersten hier niederließen, die Renovierungsarbeiten nur schleppend voran. Es mangelt an Geld und Optimismus. „Man läßt die Aussichten bewußt im Trüben“, kritisiert eine Besetzerin.
Nachdem die Stadt das 18.000 Quadratmeter große Areal im Herbst 87 von dem Hamburger Spekulanten Jens Jensen erworben hatte, duldete sie die Besetzung zunächst. Doch jetzt herrscht Alarmstimmung: Die SPD will am 10.Februar eine erste Entscheidung für die Räumung fällen. Zur Abstimmung steht dann in der Sanierungskommission ihr Antrag, der auf den Abriß von fünf der sieben besetzten Gebäude zielt, das Reizwort aber vermeidet. „Schaffung von Grün- und Spielflächen“, heißt es. Aus den Ruinen soll neben einer Kindertagesstätte ein Stadtteilpark erblühen. Wenn der Beschluß zügig durch die SPD- dominierten Gremien geht, dann, so fürchten die Besetzer, könnten schon im April die Abgrißbagger kommen.
Die Fabrikbewohner haben gemeinsam mit dem Stadtteilforum, einem Zusammenschluß interessierter Nordstädter und alternati ver Planer, ein Gegenkonzept vorgelegt. Sie fordern den Erhalt aller Gebäude, wollen billige Wohnungen, umsäumt von Ateliers und Werkstätten, eine Turnhalle und ein Ausländerzentrum mit Badehaus, ein Cafe und Kinderäume.
Einen der beiden größten Fabriktrakte bot die Verwaltung kürzlich als Ort alternativen Wohnens und Arbeitens unter der Bedingung an, daß die Besetzer mit einem Rückzug aus den übrigen Häusern „Friedensbereitschaft“ zeigten. „So eine große Chance hat es in Hannover noch nicht gegeben“, mahnt Veit Brauch, Leiter der städtischen Sanierungsabteilung.
Doch die Besetzer sind mißtrauisch. Sie sehen sich als „Faust pfand einer Bürgerbeteiligung“. Vertreter von ihnen trafen sich jetzt mit Delegierten des Stadtteilforums und der Verwaltung zu einem ersten Klärungsgespräch. „Das war wie in Genf“, stöhnte Stadtplaner Walter Richter. Das vorgelegte Alternativkonzept für das Fabrikgelände hat sich aus der Ideensammlung Nordstadt entwickelt, einer bundesweit einzigartigen Sanierungsplanung von unten. Mehr als hundert Anwohner hatten bei einem Ideenfest ihre Wünsche zusammengetragen, bildeten Arbeitsgruppen und ließen sich von Planern und Architekten beraten. Dies alles sehen die Beteiligten durch das Hauruck-Verfahren von oben gefährdet. Die Nordstadt gehört zu den ärmeren Stadtteilen, zugleich sind die Mieten zwischen 1980 und 1985 um ein Drittel gestiegen. Seit 85 ist das Viertel Sanierungsgebiet, rund 16.000 sind betroffen. Viele Alte leben hier, viele Wohngemeinschaften und mit 18Prozent doppelt so viele Ausländer wie im übrigen Hannover.
Die bürgerlichen Parteien beklagen Verluste, während die Grün-Alternativen in manchen Stammbezirken fast ein Drittel der Wähler für sich gewannen. Das Sprengelgelände, so fürchten die Sozialdemokraten, könnte zum Kristallisationspunkt alternativer Kultur werden.
So entwickelten sich bereits aus der Nordstädter Ideensammlung die Unabhängige Rockinitiative Nordstadt (URIN), ein Zusammenschluß von Musikern, und die Film- und Videokooperative. Beide lockten mit ihren Festivals BesucherInnen aus der ganzen Stadt in die Bürgerschule, das einzig bislang legalisierte und als Stadtteilzentrum renovierte Sprengelgebäude. Nun ist der Kampf um die schweigende Mehrheit entbrannt. Während Besetzer und Architekten die Sprengelnachbarn befragten – fast alle wandten sich gegen die Räumung –, sammelten empörte Bürger nach eigenen Angaben fast 300 Unterschriften für einen Abriß. „Die Besetzer pinkeln aus dem Fenster“, erregte sich ein älterer Anwohner bei der Sanierungskommission, „so was hat sich die Jugend früher nicht erlaubt.“ Einige, so der Stadtplaner Veit Brauch, drohten schon mit Aufstellung einer Bürgerwehr. Mehrere Neonazis zerwarfen Scheiben der Fabrik, Unbekannte hinterließen drei Rohrbomben, die zum Glück keinen Schaden anrichteten. Eine Vermittlergruppe will gewaltsame Auseinandersetzungen vermeiden helfen. Dazu gehört der ehemalige Stadtjugendpfleger Kurt Rauhaus. Der 67jährige Sozialdemokrat redete seiner Partei ins Gewissen: „Die SPD ist sehr nahe dran am bürgerlichen Wohnideal der übrigen Parteien. Aber es wächst eine Generation heran, die mehr will als eine sanierte Wohnung mit Vorgarten.“
Mit dem steigenden Räumungsdruck wächst die Nervosität. Was mögliche Zugeständnisse angeht, halten sich die Sozialdemokraten noch bedeckt. Auf lange Sicht wollten sie die Wiese wieder zum Bauplatz machen, argwöhnen die Besetzer. Eine Vermutung, die SPD-Ortsvereinsboß Werner Helwig bestätigt. An zehn, fünfzehn neu errichtete Wohnungen aus Mitteln des sozialen Wohnungsbaus werde durchaus gedacht. Ein Aufschub der rasanten Räumungsvorbereitungen sei vielleicht noch möglich, wenn es ernsthaft Einigungsbemühungen gebe, deutete Karl Kötter an, der stellvertretende Vorsitzende der Sanierungskommission. Der 71jährige unterhielt sich bei Kaffee und Kuchen mit den Fabrikbesetzern, „in malerischer Runde“. Auch Kötter drängt auf rasche Entscheidungen.
Eine Räumung brächte „notwendig Konfrontation“, warnte der Chef des zuständigen Polizeireviers, Rainer Langer. Auch der Anwaltsplaner Rolf-Dieter Uetzmann, Berater der Sanierungsbetroffenen, mahnt: „Wenn die SPD die Räumung durchsetzt, wird das nicht ruhig abgehen. Das gäbe ein Trauma. Dann müßten alle Sanierungsmaßnahmen über Jahre unter Polizeischutz laufen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen