: Standbild: Absurde Wirklichkeit
■ "Der wilde Mann" von Matthias Zschokke
(„Der wilde Mann“ von Matthias Zschokke, ZDF, 22.40) Ein Herr, „der sich Deutschland nicht mehr leisten konnte“, steigt ab, im doppelten Sinn des Wortes: Im dörflichen Schweizer Gasthof „Wilder Mann“ nimmt er ein Zimmer für eine Nacht - am Morgen ist er tot, gestorben am Abstieg in eine Welt, die keinen Platz für feine Herren hat. Der Gasthof: Ein absurd-reales Pandämonium des ganz normalen Wahnsinns. Der Herr: Ein schönleibiges Sensibelchen aus Peine -Salzgitter, ein „Galanteriewarenvertreter“, der seine „Gummis“ nicht los wird, denn „auf dem Land liebt man es ohne.“
Was diesem Herrn, dem schön-häßlichen Dieter Laser, in jener Nacht passiert, hält sich in merkwürdiger Balance zwischen tiefgründiger Symbolik und schwebend-komischer Leichtigkeit: Kein Mensch interessiert sich für den Herrn, aber jeder - die Kellnerin, der Wirt, der junge, gelind beschränkte Filmvorführer, der bäuerlich fette, nächtens übende Tubabläser und, vor allem, die junge Schauspielerin, die den Herrn anfleht, sie unbedingt nach Peine-Salzgitter mitzunehmen, als wäre dies die langersehnte Weltstadt, „in der ich endlich atmen kann“ - sie alle trampeln über seinen Schlaf hinweg, durchqueren sein Zimmer - „lassen Sie sich nicht stören“ -, wecken ihn auf - „schlafen Sie gut“ - und hören ihm nie zu. Obwohl er doch anfangs gleich devot versucht, sich mit dem groben, dörflichen Milieu gemein zu machen, indem er einen schmutzigen Reim zum besten gibt: „Loch ist Loch, sprach der Koch, und vergewaltigte ein Nüdelchen.“ Es nutzt nichts - die beiden Welten haben nichts gemein. Die eine, feine, geht den Bach hinunter; die andere, ländliche, ist auch kaputt, bloß merken die Leute nichts davon. Als der feine Herr am Ende tot auf einem Stuhl im Freien hängt, verabschiedet sich das Fernsehspiel mit dem Bild von zwei zufrieden wiederkäuenden Kühen: „Es ist nicht anzunehmen, daß sich die Dorfbewohner an den Herrn erinnern“, sagt Dieter Laser aus dem Off.
An dieses Fernsehspiel jedoch erinnert man sich sehr wohl. An die Ästhetik dieser Bilder, in denen Grobheit und Sensibilität zusammentreffen, Absurdes und Reales, bis man kaum noch entscheiden kann: Ist die Wirklichkeit nun absurd, oder die Absurdität real? Manche Szenen allerdings tragen etwas zu dick, fast klamaukig auf, da scheint mit Zschokke der Ackergaul statt des edlen Rennpferds durchgegangen zu sein. Doch diese paar Schrillheiten zerstören nicht das Gleichgewicht von melancholischer Derbheit und komischer Poesie. Und noch eins: Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so erotisch gefilmten nackten Mann wie Dieter Laser gesehen zu haben.
Sybille Simon-Zülch
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