Sadismus in der Szene

■ Gestern wurde das Urteil im Prozeß zur Vergewaltigung in der Hafenstraße gefällt

Einzelfall oder Exempel? Am 5.Juni 1984 wurde eine Frau von drei Menschen sadistisch gequält und vergewaltigt. Schauplatz des Verbrechens: eines der besetzten Häuser in der Hamburger Hafenstraße. Zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilte das Hamburger Landgericht den Haupttäter Oliver K., genannt Oli Perverso. Durch die Behandlung des Falls als singulären Ausflipp wurde der Prozeß zum exemplarischen Fall verpaßter Aufarbeitung.

Vor Jahren gab er sich selbst den Spitznamen „Oli Perverso“. Bleich, schmächtig, zusammengesunken sitzt Oliver K. nun auf der Anklagebank, die Haare halblang und blondgesträhnt, die Füße in knallroten Turnschuhen: ein Jüngelchen. Kaum vorstellbar, daß er schon 27 Jahre alt sein soll, und noch weniger, daß er, damals noch Punker, am 5.Juni 1984 eine Frau zwölf Stunden lang bestialisch gequält, gefoltert, erniedrigt und vergewaltigt hat - die grauenhaften Einzelheiten möchte ich den LeserInnen ersparen. Aber sind es nicht oft gerade die Nobodies, die Frauen Gewalt antun, weil sie endlich einmal Macht über andere spüren wollen?

Die Tat erregte damals bundesweit Aufsehen, weil sie sich in einer Wohnung der Hafenstraße abgespielt hatte und die Häuserbewohner zu ebenfalls grausamer Selbstjustiz griffen; sie hätte aber auch an jedem anderen Ort geschehen können, wo kaputte, gescheiterte Existenzen aufeinandertreffen. Denn Oliver K. handelte nicht allein, im wörtlichen Sinne aus Leibeskräften unterstützten ihn - zwei Frauen. Die beiden, damals ebenfalls Punkerinnen, wurden bereits Ende 1984 zu jeweils zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt.

Das Landgericht spricht sein Urteil: fünfeinhalb Jahre wegen tateinheitlicher Vergewaltigung, sexueller Nötigung, schwerer Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Nun wird er also hinter Gittern verschwinden und irgendwann aus der Macho-Zwangsgesellschaft Knast um so kaputter wieder herauskommen. Eine Therapie wäre das einzige gewesen, was hier womöglich noch geholfen hätte. Aber das hätte der Angeklagte auch wollen müssen.

In diesem Prozeß tut er jedoch alles, um seinen Verteidiger, das Gericht und den psychiatrischen Sachverständigen wider alle Anhaltspunkte davon zu überzeugen, das Geschehen sei ein absolut singulärer Ausflipp in seinem Sexualleben gewesen. Ob er ähnliche sadistische Handlungen schon früher praktiziert habe, fragen die Prozeßbeteiligten. Nee. Es seien doch Folterwerkzeuge in seiner Wohnung gefunden worden, Ketten, Fleischerhaken? Naja, ein paar Pornos. Hatten die mit Sadomaso zu tun? Nee.

Nein, das Geschehen selbst wolle er ja gar nicht leugnen. „Ich trage für alles, was ich getan habe, die Verantwortung“, heißt es in seinem Geständnis, das er mit seinem Verteidiger formuliert hat, vorgetragen vom Anwalt. „Ich habe in den vergangenen fünf Jahren immer und immer wieder darüber nachgedacht, weshalb ich das getan haben könnte. Ich finde keine Erklärungen. Annette mochte ich damals gerne. Ich weiß, daß ich ihr unendlich viel Leid, Schmerz und auch Todesangst zugefügt habe.“

Für die Nebenklagevertreterin, Anwältin des Opfers Annette J., war dieses Geständnis jedoch nicht viel mehr als geschickte Prozeßstrategie: „Meine Mandantin fragt sich: Hat er wirklich begriffen, was er ihr angetan hat? Warum hat er es nicht in eigenen Worten ausgedrückt? Durch die Tat hat sie einen ungeheuren Vertrauensverlust gegenüber allen Menschen erlitten. Sie hat Angst vor Menschen, Angst, auf die Straße zu gehen, Angst vor dem Einschlafen und Aufwachen.“

Im Geständnis des Angeklagten, in der Zeugenbefragung und im Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen entrollt sich nach und nach die Geschichte des Punkers Oliver K. Der Angeklagte stamme aus einem „recht auffälligen, problematischen“ Kleinbürgermilieu, urteilt Dr.Knipp. Der Vater akzeptierte den mittleren von drei Söhnen nie, die Mutter, eine chronische Alkoholikerin, war kaum je präsent. Die Eltern trennten sich, als er sieben war, und schoben ihn zuerst in ein überstrenges Internat, später in ein Heim ab. Zwischenzeitlich kam er wieder beim Vater unter und wurde dort in ein Hinterzimmer gebannt. Bereits mit neun Jahren begann er zu trinken, mit 15 dann regelmäßig. Er flüchtete aus dem Heim, zog in der Weltgeschichte herum und landete schließlich, „um ein Dach über dem Kopf zu haben“, in der Hafenstraße.

Auf dem Altonaer Spritzenplatz, einem Punkertreffpunkt in Hamburg, lernte er seine Freundin und Mittäterin Susanne S. kennen. Im Gericht wurde es nicht ausgesprochen, aber in der Szene war damals wohl bekannt, daß die beiden in der gemeinsamen Hafenstraßenwohnung eine sadomasochistische Beziehung unterhielten und „sich einmal in der Woche fast massakrierten“. Das erklärt auch, warum die anderen Hausbewohner an jenem Tag auf die stundenlangen Schreie nicht reagierten.

Der Zeugenauftritt der 23jährigen Susanne S., von Beruf „Hausfrau und Mutter“, wie sie sagt, macht deutlich, wie gefährlich dieses Gespann damals gewesen sein muß, wie die beiden sich ergänzten und hochschaukelten. Wuchtig, rotzig und patzig sitzt sie im Zeugenstuhl, vital im Vergleich zu ihm, und verlogen, wenn es ihr passend scheint. „Liebe auf den ersten Blick“ sei es mit Oli gewesen, bestätigt sie, man habe sogar heiraten wollen. Aber „wir haben nichts anderes gemacht, als jeden Tag saufen bis zum Umfallen“. Auch an besagtem Abend. Ja, sie sei oft eifersüchtig gewesen, habe andere Frauen verprügelt. Und als sie an diesem Abend „diese Annette oder wie sie heißt“ - sie sagt es wegwerfend, als ob die Nebenklägerin nicht anwesend wäre - in der Wohnung gesehen habe, sei sie „ausgeflippt“. Annette wurde getreten, geprügelt, an den Haaren aus dem Zimmer gezerrt, die Treppe hinuntergeworfen. Und dann? „Weiß nich.“ Schlagartig setzt ihre Erinnerung aus. Die Staatsanwältin formuliert es später: Susanne S. schlug mit dem Ledergürtel, sie drehte eine Sicherheitsnadel durch Annettes Klitoris, sie schlug auf die Bierflasche, die ihr Freund dem Opfer in die Scheide gesteckt hatte, und beide gemeinsam drohten der Frau, sie zu zerstückeln und in die Elbe zu werfen.

Die 24jährige Birgit P., inzwischen ebenfalls „Hausfrau“, bestätigt das im Zeugenstand: Nicht Oli allein, „wir waren's alle drei“. Auch sie machte mit, auch sie drückte eine Zigarette auf der Brust des Opfers aus. Ein Psychiater bescheinigte ihr später bei ihrem eigenen Prozeß, sie habe ebenfalls aus Eifersucht gehandelt. Kurz zuvor habe sie sich mit ihrem Freund wegen einer anderen Frau gestritten und diese Situation noch einmal spiegelgleich wiedererlebt. Aber wie um Himmels willen, „wie kam das ins Sexuelle?“ forscht der Richter. Da endlich zerfällt die harte Maske, in den Tränen wird ein Hauch von Reue spürbar, aber: „Ich kann das nicht erklären.“

Birgit P. war am nächsten Tag von Bewohnern der Hafenstraße gestellt, verprügelt, am Kopf rasiert und auf dem Land ausgesetzt worden. Sie spürten auch Susanne S. und Oliver K. in der Nordheide auf, brachten sie in die „Volxküche“ und schlugen sie mit Eisenstangen bewußtlos. Susanne K. erlitt einen Schädelbruch und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Ihr Freund entkam und flüchtete nach Süddeutschland, wo er sich bis Herbst 1988 versteckt hielt und, wie sein Anwalt meint, mit fester Freundin und festem Arbeitsplatz ein neues, „geradezu bürgerliches Leben anfing“.

Dieses „neue Leben“ wertet das Gericht in seiner Urteilsbegründung dann auch positiv. Die Tat als solche, die „außerordentlich brutal, demütigend, erniedrigend, unmenschlich“ gewesen sei, habe eine so gewaltige Schuld verursacht, daß eigentlich „eine höhere Strafe angemessen gewesen wäre“. Sie liege nur deswegen niedriger, weil der Angeklagte zur Tatzeit wegen Konsums von ephidrinhaltigen Tabletten und Alkohol vermindert steuerungsfähig gewesen sei und „die vergangenen fünf Jahre nicht nutzlos vertan“ habe.

Ute Scheub