Moskau erwägt Kriegsrecht für Abchasien

■ In Abchasien eskaliert der Nationalitätenkonflikt / Drei Milizionäre erschossen / Sondertruppen heben immer neue Waffenarsenale aus / Partei- und Regierungsspitze abgesetzt / ZK-Zeitschrift macht die Konservativen für die Nationalitätenkonflikte verantwortlich

Moskau (ap/dpa/taz) - Die bürgerkriegsähnlichen Nationalitätenunruhen in Abchasien haben mit der Erschießung von drei Milizionären am Wochenende eine neue Eskalationsstufe erreicht. Während die sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘ noch Mitte letzter Woche eine allmähliche Stabilisierung der Lage ausmachte, denkt man in Moskau mittlerweile über die Verhängung des Kriegsrechts in den Unruheregionen nach. Die Kämpfe haben am Wochenende auch zu personellen Konsequenzen geführt. Zwei Parteisekretäre und der Regierungschef Abchasiens, Otar Sugbaja, sowie sein Stellvertreter verloren ihre Ämter. Beruhigt hat sich die Situation dadurch jedoch nicht. Georgische Nationalisten haben für heute zum Generalstreik aufgerufen.

Trotz der Entsendung von Sondereinheiten des Innenministeriums und nächtlicher Ausgangssperre sehen sich die Behörden weiterhin außerstande, eine Beruhigung der seit Tagen anhaltenden Kämpfe zu erreichen. Ein Grund hierfür dürften die umfangreichen Waffenarsenale sein, über die die verfeindeten Gruppen verfügen. Spezialeinheiten meldeten am Wochenende die Aushebung mehrerer solcher Depots, in denen sich neben Waffen auch größere Mengen Sprengstoff befanden. Die drei am Freitag mit Jagdgewehren erschossenen Milizionäre kamen bei der Beschlagnahmung von Waffen in der Stadt Ostapi ums Leben. Allein am Freitag wurden 40 Überfälle auf Milizstationen gemeldet, bei denen die Aufständischen insgesamt 1.400 Schußwaffen erbeuteten. In den Vororten der abchasischen Hauptstadt Suchumi werden die Straßen von bewaffneten Zivilisten kontrolliert.

Infolge der Kämpfe herrscht in Abchasien bereits seit Tagen der Notstand. Der öffentliche Verkehr ist zusammengebrochen. Die Versorgungslage hat in einigen Gebieten den kritischen Punkt erreicht. Die Behörden warnen vor Seuchengefahr, die von den im subtropischen Klima der Region schnell verwesenden Abfallbergen ausgehe.

Die Ursache der jüngsten Auseinandersetzungen ist der Wunsch der moslemischen Abchasen nach mehr politischer und wirtschaftlicher Autonomie gegenüber dem mehrheitlich von Christen bewohnten Georgien. Die dortigen Nationalisten bestreiten die Autonomierechte der Abchasen mit der Begründung, diese hätten sich erst nach den Georgiern in der Region angesiedelt.

In einer spektakulären Veröffentlichung der theoretischen Zeitschrift des Zentralkomitees der KPdSU 'Argumenti y Fakti‘ vom Freitag gibt der Leningrader Wissenschaftler Sergej Andrejew eine politische Deutung der Nationalitätenunruhen. Andrejew bezeichnet die Reformgegner als eigentliche Hintermänner der Auseinandersetzungen in Abchasien und anderen Regionen. Die reaktionären Kräfte würden den nationalistischen Haß schüren und mit Hilfe der örtlichen Mafia zum bewaffneten Kampf gegen die Behörden aufrufen. Durch die Destabilisierung der Lebensverhältnisse hofften sie, den Volkszorn zu schüren und letztlich gegen die Reformpolitik zu wenden.

s.g.