sind uns zu mager“

■ Wieder Massendemonstrationen in Dresden und Leipzig / Dialog auf dem Dresdener Rathausplatz

wieder in den Griff zu bekommen. Die Antwort fiel eindeutig aus. Die Demonstranten in Leipzig brachen alle Rekorde, in Dresden erzwang „das Volk“ den direkten Dialog mit dem Bürgermeister. Die taz war vor Ort: Aus der DDR berichten J.Valtin und T.Lehmann.

Der Platz klirrt hell. Tausende haben ihre Hausschlüssel aus den Jackentaschen hervorgeholt, es klingt wie Glöckchenläuten. Dann wieder rythmisches Klatschen, im Wechsel mit der Parole: „Wir wollen den Oberbürgermeister sprechen.“ Es ist Montag abend. Der Rathausplatz an der Leningrader Straße nicht weit von der Elbe ist voller Menschen, zehntausend vielleicht. Seit dem späten Nachmittag wird im Dresdner Rathaus über Reformen verhandelt, in der Kreuzkirche, nur ein paar Schritte entfernt, wird zur gleichen Zeit in einem Fürbittgottesdienst der Erfolg des Dialogs beschworen.

„Wir haben uns so ans Lügen gewöhnt, daß wir zwischen Lüge und Wahrheit kaum noch unterscheiden können. Herr, gib uns die Kraft, daß wir wieder lernen die Wahrheit zu sagen.“ Die junge Frau war zum Altar gegangen und hatte diese wenigen Sätze ins Mikrophon gesprochen. Lautstarker Beifall, zum ersten Mal, das von der Orgel intonisierte Kyrie eleison geht unter. Der Gottesdienst ist zu Ende. Niemand geht nach Hause. Auf die mahnenden Worte des Pfarrers, am Dienstag abend werde in der Kreuzkirche über die Ergebnisse der Rathausgespräche berichtet, hört keiner. Auch die Zusicherung, die Verhandlungsergebnisse würden bereits am Dienstag in der Zeitung nachzulesen sein, verfehlen ihre Wirkung. Die Menge sammelt sich auf dem Platz vor dem Portal.

„Zum Rathaus“

Plötzlich gehen zwei los: „Zum Rathaus.“ Verblüfft, noch ein wenig unschlüssig, kommt die Antwort aus der Menge: „Zum Rathaus.“ Als wolle man sich selber Mut Machen. Es ist keine geordnete Demonstration.

Die Fassade des Rathauses bleibt dunkel. Nur der Eingang ist beleuchtet, das goldene Portal - fast symbolisch geöffnet. Nur die Glastür dahinter bleibt meist geschlossen. Zwei steinerne Löwen bewachen das Tor. Hinter der Menge auf der anderen Straßenseite flackert die Leuchtreklame auf dem Dach von „Robotron“, der stolzen Mikro-Chip-Schmiede des DDR -Sozialismus.

Einzelne probieren Parolen: „Wir wollen Modrow sprechen.“ Der Ruf nach dem SED-Reformer und Dresdner Bezirkschef der Partei wird nur verhalten aufgegriffen. Schließlich siegt der Ruf: „Wir wollen den Bürgermeister sprechen.“ Herren in Anzügen flitzen hinter der verschlossenen Rathaustür hin und her, verschwinden, kommen zurück. Weit und breit ist keine Polizei zu sehen. Ein Wagen der Stadtreinigung kehrt die Straßenkante. Es ist dunkel, der Mond spiegelt sich in der Glasfassade des vierstöckigen klassiszistischen Rathausneubaus. Manchmal ist es ganz still auf dem Platz.

Schließlich tritt einer aus der Rathaustür: „Mein Name ist Müller, ich bin Leiter des Pressebüros. Der Bürgermeister befindet sich noch im Dialog mit den Bürgern.“ Zwischenruf aus der Menge: „Eine Woche habt ihr Zeit gehabt.“ Antwort Müller: „Das Gespräch dient auch der Frage, wie der Dialog geführt werden soll.“ Müller ab.

Der Held der Menge unten

„Mein Name ist Uwe Scholz. Ich bin lediglich wissenschaftlicher Mitarbeiter des zentralen Kernforschungsinstituts Rossendorf. Ich bin nirgendwo anders angestellt und habe auch keinen irgendwie gearteten Auftrag“, versichert er und das Publikum freut sich. Der Akademiker ist auf den Sockel des steinernen Löwen geklettert. Mit einer Handbewegung bittet er um Ruhe. „Wenn die Presse um 20 Uhr über den Verlauf der Gespräche informiert werden soll, dann wollen wir Bürger hier zur gleichen Zeit auch informiert werden.“ Außerdem sollte als erstes der Rat der Stadt aufgefordert werden, hier eine Sprechanlage zu installieren, damit wir uns mit denen drinnen überhaupt verständigen können.“ Jubel auf dem Platz. Uwe Scholz: „Ich klopfe jetzt mal vorsichtig an die Tür und frage.“ Die Menge lacht und ruft: „Uwe rein, Uwe rein.“ Nach zehn Minuten kommt er zurück mit der Versicherung, daß eine Anlage installiert wird.

Ein Spaßvogel mit starker Taschenlampe beleuchtet über dem Rathausportal einen alten, in die glatte Fassade eingefaßten Stein. Sieht aus wie eine Höhlenzeichnung, ein Elefant ist darauf abgebildet. Die Menge lacht. Immer wieder rhythmisches Klatschen. Zeitvertreib und Gespräche ohne Mikrophon.

Einer ruft: Seid ihr alle da. Die Antwort: Ja. Wieder der eine: Wollt ihr alle hierbleiben? Die Antwort ist nicht mehr so einstimmig. Doch als der eine dann fragt: Seid ihr alle fürs Neue Forum?, da ist sich die Menge wieder sehr einig. Nach der Melodie „Ja, mir san mit'm Radl da“ singen die Zehntausend „Wo bleibt denn der Dialog, wo bleibt denn der Dialog?“

Vorhang bewegt sich oben

Im zweiten Stock bewegt sich eine Gardine. Sofort strahlt die Taschenlampe das Fenster an. Die da oben fühlen sich ertappt, machen das Licht an, öffnen das Fenster. Die Menge draußen lacht, klatscht, freut sich.

Einer von den Verhandlern im Rathaus tritt mit Megaphon ans Fenster: „Wir möchten Sie über das Ergebnis der Gespräche morgen in der Kirche informieren.“ Die Menge unten: „Heute. Wir bleiben hier.“ Einer aus der Menge: „Eine Frage.“ Der Verhandler von oben, der vor einer Woche noch Demonstrant war: „Wir können jetzt mit dem Megaphon keine Fragen beantworten.“ Meine Nachbarin lacht: „Den haben sie schon klein gekriegt, in einer Woche.“

Endlich tritt der Bürgermeister ans Fenster. Die ganze Zeit muß er schon im Schatten, unsichtbar für die Menge, die Szene beobachtet haben. Unsicher fängt er an: „Ich begrüße sie.“ Lachen unten. Oberbürgermeister Berghofer weiter: „Wir wollen den Dialog im Sinne der Gewaltlosigkeit weiterführen.“ Beifall der Menge. In Arbeitsgruppen zwischen Stadtverordneten und Verhandlern solle in der nächsten Woche über die einzelen Themen weiterdiskutiert werden. „Wir werden sie in der Presse morgen ausführlich informieren“, fährt er fort. Damit ist unten niemand mehr einverstanden: „Heute.“ Der Bürgermeister darauf: „Das war nicht vorgesehen.“ Das Volk unten: „Lüge. Jetzt oder nie.“ Der Bürgermeister tritt ab. Überläßt das Fenster dem Superintendenten Ziemer: „Es war offen, wie informiert werden soll. Umfassend kann hier nicht ohne Verstärkeranlage informiert werden.“ „Wir brauchen etwas Zeit um das Gespräch zu verarbeiten, laßt uns doch morgen in der Kirche reden.“ Das Volk unten, genervt, ungeduldig: „40 Jahre.“

Das Licht geht aus

An diesem Abend will die Menge die Bedingungen des Dialogs auf dem Rathausplatz direkt mitdefinieren. Es ist eine vorrevolutionäre Situation, wenn auch nur für einen Abend. Der Verhandler darf dann noch die Themen aufzählen, über die im Rathaus diskutiert wird: Verhältnis von Ökonomie zu Ökologie (Beifall von unten); Reise- und Ausreisemöglichkeiten (Jubel von unten); Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs (sehr mäßiger Beifall); Neue Medienpolitik; (starker Beifall); Wahlen (Jubel). Verhandler ab.

Oben geht das Licht aus, das Fenster wird geschlossen. Uwe Scholz klettert wieder auf den Löwen und fordert die Versammelten auf, nach Hause zu gehen. Die Menge ruft: „Morgen hier!“