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Aserbaidschaner wollen Wiedervereinigung

■ Erneute Zwischenfälle an sowjetisch-iranischer Grenze / „Extremisten“ handelten laut 'tass‘ „unter Drogeneinfluß“ / Grenzeinrichtungen zerstört

Moskau (afp/ap/dpa) - An der sowjetisch-iranischen Grenze ist es am Dienstag erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschanern und Grenzposten gekommen, berichteten westliche Korrespondenten. Das sowjetische Fernsehen , das erstmals am Dienstag abend darüber berichtet hatte, und die amtliche Nachrichtenagentur 'tass‘ sprachen von Gruppen von „Randalierern“, die technische Einrichtungen, Telefonleitungen, Hochspannungsmasten, Grenzmarkierungen verwüstet und in Brand gesteckt und Grenzposten bedroht hätten. Einige von ihnen hätten unter „Alkohol und Drogeneinfluß“ gestanden. Die „barbarischen Aktionen“ seien von „Extremisten“ angeführt worden, die die „bereits angespannte Situation“ in der gesamten Region noch zu verschlimmern suchten.

Der Chefredakteur der 'Aserbaidschanischen Volksfront‘, Wagiw Samedoglu, der sich telefonisch aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku meldete, nannte den 'tass'-Bericht eine „Lüge“. Die Leute hätten ihre jenseits der Grenze lebenden Verwandten und Freunde sehen wollen, was ihnen seit der Stalin-Zeit verwehrt werde. Im iranischen Grenzgebiet lebten rund vier Millionen Aserbaidschaner, die sowjetischen werden auf sieben Millionen Menschen geschätzt. Der Journalist verglich die bestehenden Grenzsperren mit der Berliner Mauer.

Auch ein anderer aserbaidschanischer Journalist, Nasim Ragimow, sieht hinter den seit Ende Dezember andauernden Kämpfen an der sowjetisch-iranischen Grenze im Kaukasus das Verlangen der dort lebenden Volksgruppe der Aseris nach Wiedervereinigung. Die Aseris sind ein muslimisches Turkvolk, das etwa drei Viertel der Bevölkerung von Aserbaidschan bildet. Insgesamt waren Anfang 1988 rund 5,5 Millionen Aseris registriert. Sie leben fast ausschließlich in Nachitschewan, das als Exklave Aserbaidschans in Armenien liegt und im Süden an Iran grenzt. Im Dezember 1988 waren nach nationalen Ausschreitungen die letzten Armenier aus diesem Gebiet geflohen.

Die iranische Tageszeitung 'Kaihan‘ hatte nach den ersten Zwischenfällen vom vergangen Sonntag an dem sowjetisch -iranischen Grenzabschnitt berichtet, schiitisch-moslemische Aserbaidschaner hätten dort „pro-islamische Slogans“ skandiert und Religionsfreiheit in ihrem Land gefordert. 'tass‘ meldete, daß Vertreter der iranischen Grenzposten ihrerseits gegen die „Aktionen extremistischer Elemente protestierten“ und sie als „Beleidigung ihres Landes“ charakterisierten. Sie hätten die Sowjetunion aufgefordert, die Tumulte zu beenden und „ernstere Konsequenzen zu verhindern“, hieß es.

Iran übt offenbar in bezug auf die moslemischen Fundamentalisten in zentralasiatischen Raum der Sowjetunion, in dem etwa 50 Millionen Moslems leben, Zurückhaltung. Auch wenn bei Demonstrationen in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku nach Berichten der sowjetischen Regierungszeitung 'Iswestia‘ im vergangenen Jahr Porträts des verstorbenen iranischen Religionsführers Ayatollah Chomeini geschwenkt wurden.

Der aserbaidschanische Nationalismus tritt jedoch nach Angaben westlicher Beobachter inzwischen deutlicher zutage. Die aserbaidschanische Volksfront hat sich im vergangenen Dezember in zwei Gruppierungen gespalten, vor denen die eine ein „größeres Aserbaidschan“, das die beidseits der iranisch -sowjetischen Grenze lebenden Aserbaidschaner vereinen würde, fordert.

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