Hat die Natur ein Gedächtnis?

■ Für eines der großen Rätsel der Wissenschaft - die Entstehung der Formen in der Natur - schlägt der englische Biologe Rupert Sheldrake ein revolutionäres Erklärungsmodell vor: ein morphogenetisches Feld, das die Erinnerung jeder Spezies weitergibt.

Mathias Bröckers

Seit dem Erscheinen des ersten Buchs von Rupert Sheldrake (Biologe, geb. 1940, Promotion in Cambridge) tobt vor allem in der englischsprachigen Gelehrtenwelt ein heftiger Streit: „Das schöpferische Universum“, so der deutsche Titel des 1981 erschienenen Buchs, war konservativen Naturwissenschaftlern ein rotes Tuch. Das einflußreiche Wissenschaftsblatt 'Nature‘ bezeichnete Sheldrakes Werk als eine „gefährliche Irrlehre“: „Dieses ärgerliche Traktat ist ein Spitzenkandidat für eine Bücherverbrennung.“ In der Tat rüttelte Sheldrakes Hypothese, daß die Formen in der Natur weder allein durch die Gene, noch im darwinschen „Kampf ums Dasein“, sondern durch ein „morphogenetisches“, form -verursachendes Feld entstehen, an den Grundfesten naturwissenschaftlicher Glaubenssätze. Die wüste Drohung einer Bücherverbrennung zeigte, daß hier ein wunder Punkt in der fundamentalen Weltanschauung des wissenschaftlichen Establishments berührt war. Das etwas moderner eingestellte Fachblatt 'Scientist‘ schrieb denn auch: „Wenn Sheldrake recht hat, dann hat die westliche Wissenschaft die Welt ganz übel fehlgedeutet - und alles, was in ihr lebt, dazu.“

Das Herausfordernde an Sheldrakes neuer Theorie war, daß er nicht einfach spekulierte, sondern seine Behauptungen anhand objektiver, wiederholbarer Experimente aufstellte und die Ergebnisse einiger erster Versuche gleich vorlegte. In der Folgezeit fanden, gefördert durch Preisgelder von Universitäten und Institutionen, weitere Experimente zur Überprüfung der Hypothese statt. Die Ergebnisse waren positiv.

1988 ging der Streit um die morphogenetischen Felder in eine weitere Runde. In England erschien ein neues Buch von Rupert Sheldrake - „Das Gedächtnis der Natur“ - in dem der Autor seine Hypothese in ihren historischen und philosophischen Gesamtzusammenhang stellt und verdeutlicht, daß sie auf ein vollkommen neues, durch und durch evolutionäres Verständnis der Welt hinausläuft: Nicht ewige, unverückbare Naturgesetze regieren das Universum und das Leben, sondern ein sich durch die Gegenwart ständig veränderndes, evolutionierendes Gedächtnis der Vergangenheit. In der Einleitung des soeben auf deutsch erschienenen Werks schreibt Sheldrake: „Dieses Buch erforscht die Möglichkeit, daß die Natur ein Gedächtnis besitzt. Es vertritt die Ansicht, daß natürliche Systeme wie Termitenkolonien, Tauben, Orchideen und Insulinmoleküle von allen früheren Exemplaren ihrer Art, wann und wo auch immer diese existiert haben mögen, eine kollektive Erinnerung übernehmen. Diese kollektive Erinnerung ist von kumulativem Charakter, wird also durch Wiederholung immer weiter ausgeprägt, so daß wir sagen können, die Natur oder Eigenart der Dinge sei Ergebnis eines Habitualisierungsprozesses, also Gewohnheit: Die Dinge sind so, wie sie sind, weil sie so waren, wie sie waren. Gewohnheiten könnten in der Natur aller lebenden Organismen, in der Natur der Kristalle, Moleküle und Atome, ja des ganzen Kosmos liegen. (...) Diese Möglichkeiten sind im Rahmen einer wissenschaftlichen Hypothese denkbar, die ich 'Hypothese der Formbildungsursachen‘ nenne. Nach dieser Hypothese hängen Gestalt und Art der Dinge von Feldern ab, die ich 'morphische Felder‘ nenne. Jedes natürliche System besitzt ein eigenes spezifisches Feld und so sprechen wir von einem Insulinfeld, einem Buchenfeld, einem Schwalbenfeld und so weiter. Alle Atome, Moleküle, Organismen, Gesellschaften, Konventionen und mentalen Gewohnheiten werden von solchen Feldern geformt. Morphische Felder sind, wie die bekannten Felder der Physik, nicht-materielle Kraftzonen, die sich im Raum ausbreiten und in der Zeit andauern. (...) Wenn solch ein organisiertes System aufhört zu existieren - etwa wenn ein Atom sich spaltet, eine Schneeflocke schmilzt, ein Tier stirbt - so verschwindet das organisierende Feld von dem Ort, an dem das System sich befand. In einem anderen Sinne jedoch verschwinden morphische Felder nicht: Sie sind potentielle Organisationsmuster und können sich zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wieder konkretisieren, wenn die entsprechenden physikalischen Bedingungen gegeben sind. Den Prozeß, durch den Vergangenheit innerhalb eines morphischen Felds zur Gegenwart wird, nenne ich 'morphische Resonanz‘.“

Warum sieht ein Kaninchen wie ein Kaninchen aus? Warum spinnt eine Spinne in Timbuktu ihr Netz exakt so wie ihre Artgenossin in Lappland? Warum ähneln sich Kleeblätter wie ein Ei dem anderen und sind doch, genau betrachtet, niemals identisch? Warum wächst eine Hand wie eine Hand und ein Fuß wie ein Fuß, obwohl doch die Zellen, aus deren Teilung die vielfältigen menschlichen Organe hervorgehen, absolut identisch sind? Was gibt einem Schneekristall, einem Insulinmolekül oder einem Termitenbau seine charakteristische Form? Was die befruchteten Eier oder Zellen veranlaßt, ihre typische Gestalt und Struktur anzunehmen, hat die Wissenschaftler seit der Antike beschäftigt; für Platon waren es transzendente Urbilder oder ewige mathematische Gesetze, die dafür sorgen, daß ein Esel mit grauem Fell und vier Beinen geboren wird oder ein Kristall harmonische Symmetrien aufweist. Ein Esel war für ihn die irdische Manifestation der metaphysischen „Esel -Idee“, eines ewigen Urbilds, das Platons Nachfolger mit der Ausbreitung des Christentums zu einer Idee im Geiste Gottes umdeuteten. Aristoteles, ein Schüler Platons, bestritt die Existenz einer solchen transzendentalen Ideen-Schmiede. Er glaubte, daß die Natur selbst beseelt sei und die Organisationsprinzipien in den Dingen selbst gegenwärtig sind, daß also das befruchtete Ei die Esel-Idee enthält, die das Tier zu seiner Form und seinem Verhalten hinstreben läßt. Das Zeitalter der Aufklärung brachte im 17. Jahrhundert die Vorstellung einer Präformation hervor, die den Bauplan des Lebens ebenfalls in den Samen oder Eizellen ansiedelte, allerdings nicht als platonische Idee und auch nicht als Seele, sondern als Miniaturorganismus, der schon alle charakteristischen Formen enthält. Unter dem Mikroskop glaubte man tatsächlich ein winziges Wesen mit Eselohren zu erkennen, oder, in menschlichem Sperma, einen kleinen Homunculus. Schon bald aber wurde entdeckt, daß das Wachstum epigenetisch, durch Neubildung vorher nicht vorhandener Strukturen, verläuft - ein Begriff der Präformationsbiologen dieser Zeit allerdings hielt sich und wurde später berühmt: der Begriff „Evolution“.

Charles Darwin, mit dessen Name die Theorie der Evolution heute verbunden ist, hat diesen Begriff bei der ersten Formulierung seines Hauptwerks „Die Entstehung der Arten“ bewußt nicht verwendet - von „Evolution des Lebens“ zu sprechen, hätte im Kontext der damaligen Zeit bedeutet, daß man eine sich entwickelnde, präexistierende Struktur voraussetzte, womöglich eine göttlichen Idee, und eben dies wollte Darwin vermeiden. Er gab seine Antwort auf die Frage, nach welchem Plan die Formen des Lebens entstehen, vielmehr in Begriffen, die dem von industriellem und ökonomischem Aufschwung geprägten 19. Jahrhundert entsprachen: Fortschritt, Innovation, Konkurrenz, Eliminierung des Untauglichen und Vererbung von Gütern. Organismen und ihre Formen entwickelten sich laut Darwin spontan und zufällig, neue Merkmale werden an die Nachkommen vererbt, deren Überlebensfähigkeit sich im Kampf ums Dasein entscheidet.

Mit der Entdeckung der DNS in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts glaubte man das Rätsel der genetischen Vererbung und damit auch das Rätsel der Formentstehung endgültig gelöst zu haben: Der Genotypus, die genetische Veranlagung, bestimmt den Phänotypus, das tatsächliche Erscheinungsbild des Organismus. Evolvieren kann aber nur der Geno-Typ, das Erscheinungsbild und Verhalten des Phänotyps wirkt sich nicht auf die Nachkommenschaft aus. Der blinde Zufall, so die heute herrschende neo-darwinistische Lehrmeinung, läßt bestimmte Gene mutieren und neue Formen entstehen. Daß zum Beispiel Kamele mit einer dicken Hornhaut auf den Knien geboren werden, hat nach Meinung der Neo -Darwinisten nichts mit dem häufigen Niederknien der Ur -Kamele zu tun, welches als erworbenes Merkmal im Laufe vieler Generationen erblich wurde, sondern mit einer genetischen Mutation, die irgendwann zufällig Hornhaut an den Knien produzierte, die dann von der natürlichen Auslese begünstigt wurde und sich durchsetzte.

Auch die Schwierigkeit, daß etwa die Form eines Blumenkohls sich nicht aus den DNS- und Eiweißmolekülen ablesen läßt, oder daß die von den Genen produzierten Proteine beim Schimpansen und beim Menschen zu 99 Prozent übereinstimmen, gilt mittlerweile als überbrückt: Daß sich aus nahezu identischen DNS-Molekülen verschiedene Formen entwickeln, liege, so die Molekularbiologen, an unterschiedlichen „genetischen Programmen“ - ein Begriff, den Sheldrake als irreführend zurückweist: „Vielleicht erhält die Morphogenese ihre Ordnung tatsächlich von einem solch zielgerichteten Lenkungsprinzip, doch dann wäre 'genetisches Programm‘ der falsche Name dafür: Es ist nicht genetisch, liegt nicht in den Genen und man kann die Morphogenese auch nicht als 'programmiert‘ bezeichnen. Wäre das Entwicklungsprogramm in den Genen enthalten, dann wären alle Körperzellen identisch programmiert, denn sie enthalten alle dieselben Gene. So sind beispielsweise die Zellen unserer Arme und Beine genetisch identisch. Diese Gliedmaßen enthalten überdies genau dieselbe Arten von Eiweißmolekülen, chemisch identischer Knochen- und Knorpelsubstanz und so weiter. Aber sie sind von unterschiedlicher Gestalt. Mit den Genen alleine sind diese Unterschiede nicht zu erklären. (...) An dieser Stelle wird die Theorie der genetischen Programme denn auch fadenscheinig, und man behilft sich mit vagen Ausdrücken wie 'komplexe raumzeitliche Muster physikalisch -chemischer Aktivität, die noch nicht gänzlich erforscht sind‘ oder 'unaufgeklärte Mechanismen‘. Der Begriff der programmierten Entwicklung ist irreführend, denn wenn man ein Phänomen „programmiert“ nennen will, muß nachzuweisen sein, daß neben dem Phänomen selbst etwas Zweites besteht, das Programm... Diese Voraussetzung ist tatsächlich gegeben bei der Abfolge der basischen Bausteine in DNS-Molekülen und der Abfolge der Aminosäuren in Peptiden. Hier aber hört das Programm schon auf. Für die Faltung der Peptidketten zu den charakteristischen dreidimensionalen Eiweißmolekülen ist keine Programmierung vorhanden (...) Zwar entwickelte sich die moderne Biologie in Opposition zum Vitalismus, also der Lehre, daß lebendige Organismen von zielgerichteten, geistähnlichen Prinzipien organisiert werden, und die Mechanisten verwarfen solche Gedanken. Aber mit den genetischen Programmen haben sich nun doch wieder zielgerichtete geistähnliche Organisationsprinzipien in die moderne Biologie eingeschlichen. (...) Die Mechanisten haben den Vitalisten stets vorgeworfen, sie versuchten, den Geheimnissen des Lebens mit leeren Worten wie 'Entelechie‘ Zielgerichtetheit - beizukommen, die 'alles und gar nichts erklärten‘. Doch auch in ihrer mechanistischen Verkleidung haben die alten Vital-Faktoren genau diese Eigenschaft: Sie erklären nichts. Wie kann eine Ringelblume aus ihrem Samen herauswachsen? Weil sie genetisch programmiert ist. Wie kann eine Spinne ihr Netz spinnen? Weil der Instinkt dazu in ihren Genen kodiert ist. Und so weiter.“

Sheldrake zeigt an vielen Beispielen, wie alle Versuche, die Organisationsprinzipien des Lebens mit genetischen Programmen zu erklären, fehlgeschlagen sind. Was aber ist biologische „Information“, wenn sie nicht allein aus dem Aufbau der Gene zu erklären ist? Platon hätte geantwortet, daß es sich um ewige transzendentale Ideen handelt, Aristoteles hätte von der Seele der Natur gesprochen und die modernen Materialisten von einem „genetischen Programm“, das völlig ohne Gott, Geist oder Seele auskomme - worauf Rupert Sheldrake erwidert, daß die materialistische Vorstellung einer von einem Zufallsgenerator und ansonsten von mechanischer Notwendigkeit gesteuerten Welt theoretisch nur überleben konnte, weil sie in gut platonischer Manier die Existenz nichtmaterieller Organisationsprinzipien, der ewigen Naturgesetze, voraussetzte. Gesetzmäßigkeiten, die schon vor dem Anfang des Universums, also schon vor dem Urknall, da gewesen sein müssen und sich seither nicht verändert haben. Den Vorwurf, daß er mit seiner Theorie eines unsichtbaren, Zeit und Raum überwindenden morphischen Feldes als Träger biologischer Information dem Irrationalismus und der Mystik Vorschub leiste, entkräftet Sheldrake in seinem neuen Buch, indem er aufzeigt, daß hinter den gegenwärtig anerkannten Theorien der Naturwissenschaft eine zutiefst metaphysische Annahme steckt: daß nämlich die Naturgesetze ewig und für alle Zeiten dieselben sind.

Sheldrakes Theorie geht davon aus, daß die gesamte Natur einschließlich des Kosmos ein selbstorganisiertes System ist, dessen Baupläne nicht für alle Ewigkeiten fixiert sind, sondern sich mit den von ihnen organisierten Systemen entwickeln. Die biologische Information wird dabei nicht durch die Gene verererbt, sondern durch die „morphische Resonanz“, mit der sich der Organismus auf das Muster des morphischen Feldes seiner Spezies „einschwingt“.

Wie haben wir uns das vorzustellen? Sheldrake vergleicht die Situation mit einem Fernsehapparat: Die Bilder auf dem Schirm entstehen im TV-Studio und werden durch ein elektromagnetisches Feld übertragen. Um das Bild erzeugen zu können, muß der Apparat mit den richtigen, verdrahteten Komponenten ausgestattet, mit elektrischer Energie versorgt und auf die Sender-Frequenz eingestellt sein. Veränderungen an der Ausstattung, etwa ein fehlerhafter Transistor, stören das Bild auf dem Schirm oder lassen es verschwinden - doch niemand käme auf die Idee, daß die Bilder aus den Transistoren und den anderen Komponenten bestehen und dem TV -Apparat einprogrammiert sind. Die herkömmliche Biologie aber tut genau dies: Sie wertet die Tatsache, daß Veränderungen an den genetischen Komponenten Form und Verhalten eines Organismus beeinflussen können, als Beweis dafür, daß Form und Verhalten in den Genen kodiert oder genetisch programmiert seien.

Die Natur hat also nicht nur ein Gedächtnis, dieses Gedächtnis existiert auch außerhalb der materiellen Körper und überbrückt Zeit und Raum. Es wundert nicht, daß diese große, universale Hypothese auf den Widerspruch der etablierten Wissenschaft gestoßen ist. Doch Sheldrakes Theorie kann einige Phänomene erklären, vor denen der empirische Rationalismus schlichtweg ratlos ist. Für Chemiker beispielsweise ist es sehr schwierig, eine neue Kristallart herzustellen, oft müssen die Zutaten monatelang reagieren, bis sie kristallisieren - ist es aber einmal irgendwo auf der Welt gelungen, ein solches neues Kristall herzustellen, geht es fortan überall viel schneller vonstatten. Erklärt wurde diese mysteriöse Fernwirkung bisher mit der wahrhaft haarsträubenden These, daß sich winzige Partikel in den Barthaaren reisender Chemiker festgesetzt und die anderen Experimente infiziert hätten. Sheldrakes Lösungsvorschlag: Das neue Kristall hat ein morphisches Feld aufgebaut, das als Sender wirkt.

Ebenfalls keine Erklärung hat die orthodoxe Theorie für die Ergebnisse, die Experimente über die Lernfähigkeit von Ratten erbrachten: Rattenvölker gaben nicht nur ihre Fähigkeit, sich in besonders komplizierten Labyrinthen zurechtzufinden, an ihre Nachkommen weiter, vererbten also genetisch unmöglich - erworbenes Verhalten. Auch andere Rattenvölker fanden sich plötzlich sehr viel schneller in dem neuartigen Labyrinth zurecht, selbst wenn die Experimente in anderen Erdteilen stattfanden. Daß Informationen über neuartiges Verhalten im „morphischen Feld“ einer Spezies übertragen werden könnte, bestätigten auch die Experimente, die zur Überprüfung von Sheldrakes Hypothese durchgeführt wurden. Zwei englischsprachigen Gruppen in USA und England wurden drei japanische Verse zum Auswendiglernen vorgelegt - ein bekannter Kindervers und zwei weitere von ähnlichem Aufbau, die ein Lyriker aber eigens für diesen Test verfaßt hatte. Nach einer halben Stunde sollten die Versuchspersonen die Verse rezitieren: 62 Prozent, statt der zu erwartenden 33 Prozent, konnten sich an den echten Vers am besten erinnern.

Ähnliche Ergebnisse brachte auch das, von der Tarrytown -Group mit 10.000 Dollar prämierte Experiment eines Psychologieprofessors der Yale Universität. Er hatte Studenten 96 hebräische Wörter, die Hälfte echt, die andere Hälfte sinnlos, vorgelegt, um sie die Bedeutung raten zu lassen und die Sicherheit ihrer Vermutung auf einer Skala von 0 bis 4 einzutragen. Wieder war das Ergebnis hochsignifikant: Das Vertrauen der hebräisch-unkundigen Studenten zu den echten Worten war doppelt so groß.

Existieren morphische Felder tatsächlich? Die Konsequenzen und Implikationen wären außerordentlich, und doch wird Sheldrakes Theorie nicht nur durch diese ersten Experimente gestützt, sondern auch durch neuere Erkenntnisse anderer Wissenschaftszweige: So findet die merkwürdige Fernwirkung der morphischen Resonanz eine Entsprechung in den Ergebnissen der Quantenphysik, die in der Welt der kleinsten Teilchen eine unerklärliche Resonanz Informationsübertragung ohne Energie - festgestellt hat. Und daß, wie Sheldrake behauptet, das Gedächtnis der Natur nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Organismen, in einem biologischen Kraftfeld, lokalisiert ist, entspricht dem paradoxen Ergebnis der Gehirn-Forschung, die bei ihren Versuchen, Erinnerung und Gedächtnis zu lokalisieren, zu dem paradoxen Schluß kam: „Das Gedächtnis ist überall, aber nirgendwo im besonderen.“ Daß eine solche Nicht-Örtlichkeit für ein mechanistisches Weltbild untragbar ist, liegt auf der Hand - entsprechend stieß Sheldrakes These, welche die für den Mechanikerverstand unangenehmen Ergebnisse der Quantenphysik und der Neuro-Wissenschaft von einer ganz anderen Seite bestätigte, auf harsche Ablehnung.

Auf Begeisterung, ja teilweise blinden Enthusiasmus stieß Sheldrakes Idee des morphogenetischen Feldes dagegen bei den Vertretern eines ganzheitlichen, holistischen Weltbilds: Einen solch umfassenden, die Evolution des gesamten Kosmos sowie das individuelle Verhalten einbeziehenden Entwurf einer organischen Weltsicht hatte es bisher nicht gegegeben. Und zum ersten Mal bahnte sich an, daß man sie nicht nur glauben, sondern experimentell überprüfen und wissenschaftlich „hart“ machen konnte. Mit seinem zweiten Buch beweist Sheldrake, daß es sich bei den morphischen Feldern um weitaus mehr handelt als um eine fixe New-Age -Idee. Hier tritt kein schriller Außenseiter auf, der sich um jeden Preis profilieren will, sondern ein vorsichtiger, streng empirisch vorgehender Wissenschaftler, der die eklatanten Ungereimtheiten des vorherrschenden Naturverständnisses sichtbar macht und für ein neues Erklärungsmodell plädiert. So revolutionär und radikal Sheldrakes These ist, so selbstverständlich und logisch scheint sie angesichts der Irrungen und Wirrungen, die er in diesem Buch anhand der wissenschaftshistorischen Entwicklung aufzeigt - unangestrengt, selbstkritisch und hervorragend lesbar. Wenn ein eher konventionelles wissenschaftliches Buch wie die „Kurze Geschichte der Zeit“, dessen Verfasser Stephan Hawking an die Gottheit der ewigen Naturgesetze glaubt, zum Bestseller wird, dann sollte auch ein wirklicher Neuansatz unseres Weltverständnisses wie das „Gedächtnis der Natur“ genügend Leser finden. In diesem Falle können es die akademischen Autoritäten ruhig noch eine Weile ignorieren, auch wenn sie letztlich nicht daran vorbeikommen - wenn Sheldrake recht hat, verbreitet sich die Idee auch so: Die morphogenetische Feldpost geht nicht nur bei der natürlichen, sondern auch in der geistigen und gesellschaftlichen Formbildung unweigerlich ab!

Rupert Sheldrake: „Das Gedächtnis der Natur“, Scherz-Verlag 1990, 448 Seiten, 42 DM

Sheldrake ist zur Zeit in der Bundesrepublik, im Rahmen von „Gaia - Eine internationale Konferenz“ in Tottmoos im Schwarzwald. Nähere Informationen beim Veranstalter: Forum Freiburg, Tel. 0761/553887