Ist Kurt Tucholsky ermordet worden?

■ Oldenburger Forscher machen sonderbare Entdeckungen bei Recherchen für neue 25-bändige Gesamtausgabe

Mit so viel Umsicht und Sorgfalt hat Kurt Tucholsky sich Zeit seines Lebens in Verschleierungen, ironische Maskeraden und Psedonyme gehüllt, daß in den vierzig Jahren seit seinem Tod selbst die Fachwelt abgestumpft ist. Schon hat man sich daran gewöhnt, mit Wissenslücken zu leben, da melden sich zwei Oldenburger Forscher, die eine 25bändige Tucholsky –Gesamtausgabe vorbereiten, mit Recherche-Ergebnissen, die selbst die Übereinkunft, Tucholsky habe Selbstmord begangen, in Zweifel ziehen.

Den Wissenschaftlern Gerhard Kraiker und Dirk Grathoff sind beim Verarbeiten von Unmengen bisher unbekannter Materialien rätselhafte Indizien aufgefallen. So ist mittlerweile sicher, daß Tucholsky den legendären Abschiedsbrief (“O – Angst...nicht vor dem Ende“) an Ex-Frau Mary nicht kurz vor seinem Tod geschrieben hat, sondern schon einen Monat früher. Es gibt definitiv kein Wort des Abschieds von ihm, das später datiert wäre.

Noch eins ist sonderbar: Nicht schon zwei Tage vor seinem Tod am 21. 12. 1935 hat Tucholsky Überdosis Schlafmittel geschluckt, wie bisher als sicher galt, sondern erst am Todestag selbst. Das belegen die Akten des Göteborger Krankenhauses. Ob er das Gift überhaupt freiwillig genommen hat, ist nun die Frage.

Für den Münchner Historiker Michael Hepp, der an den Nachforschungen beteiligt ist, spricht vieles dafür, „daß dieser Mann den Nazis auch im Exil nicht gleichgültig war. Man kann sagen, daß die Theorie vom Mord an Tucholsky mehr als nur Spekulation ist.“ Der Historiker Walter Mehring hat nach dem Krieg Ermitlungen „über den Mord an Tucholsky“ erwähnt. Bekannt ist, daß Tucholsky Angst vor der Auslandsorganisation der Nazis hatte. Vor ihr war er in Schweden durchaus nicht sicher.

Man muß sich einmal vorstellen, wie Tucholsky, bewaffnet mit einer Pistole, auf seinem Balkon sitzt, die ganze Nacht lang. Tags zuvor ist der Polizeischutz aus Göteborg wieder abgezogen worden. Der Schriftsteller hatte ihn angefordert, weil zwei Finsterlinge sein Haus in Hindas observiert hatten. Dennoch: in den letzten Wochen vor seinem Tod äußerte sich Tucholsky eher zuversichtlich, hatte offenbar Lust, seine Kämpfe weiterzuführen, wenn man den letzten an seine Züricher Freundin Hedwig Müller gerichteten Briefen und dem „Q-Tagebuch“ glaubt. (...)

Antje Bonitz, Leiterin des Marbacher Tucholsky-Archivs und Mitherausgeberin der geplanten Gesamtausgabe: „Unsere Recherchen haben ergeben, daß bei im Ausland lebenden Gegnern des Hitler-Regimes vorgetäuschte Selbstmorde oder Unfälle üblich waren.“

Das sind nicht die einzigen Argumente, mit dem Fall und Menschen und Dichter Tucholsky, der bekanntlich nicht auf Schloß Gripsholm, sondern in einem sehr unvergangenen Deutschland gelebt hat, noch einmal von vorn anzufangen. „Seit fünfzehn Jahren arbeitet man in Württemberg an einer Mörike-Gesamtausgabe“, sagt der Oldenburger Gerhard Kraiker, „Tucholsky brennt uns auf den Nägeln. wir können den Mann nicht mit dem Stempel 'Erledigt' in die Ecke stellen.“

Die Herausgeber brauchen zunächst öffentliche Gelder, erstens für ihr bis zum Jahr 2005 geplantes Riesenprojekt, zweitens für die damit verknüpfte Forschung an der Uni Oldenburg. Michael Hepp: „Hätten wir mit Goethe die gleichen Probleme wie mit Kurt Tucholsky, würde dafür wahrscheinlich ein Bundesministerium gegründet.“

Im Marbacher Literaturarchiv ist zwar säuberlich die Tüte aufbewahrt, in der Tucholsky seiner Frau Mary Gerold-T. am 29.September 1923 aus dem Berliner Cafe Kranzler einen Krapfen geschickt hat, aber ein Drittel seiner Arbeiten, schätzt Hepp, ist immer noch, trotz zahlreicher Funde in den letzten Jahren, ganz unbekannt. Weitere Überraschungen sind nicht ganz unwahrscheinlich bei einem Mann, dessen Widersprüchlichkeit in vollem Umfang erst noch akzeptiert werden muß. In jungen Jahren arbeitete Tucholsky, der insgesamt 3500 Artikel in über 100 verschiedenen Blättern publiziert hat, zum Beispiel zeitgleich für die radikale „Linkskurve“, für die Bremer „Rote Hilfe“ und andererseits das polenfeindliche Schlesierhetzblatt „Pieron“ – wofür er sich später, als Pazifist, der er geworden war, entschuldigt hat.

Aus dem Bild seiner späteren Existenz wird immer noch gern die Komponente des behäbigen Bürgers retuschiert, des Autors konservativer Ullstein-Zeitungen (“Ullschweinereinen“ warfen ihm seine Freunde vor), der, wie er selber sagte, einen Anzug nach Maß lieber hatte „als eine Gesinnung von der Stange“. So war er, der Tucho. „Wir brauchen keinen unverbindlich-fröhlichen Tucholsky“, sagt Hepp, „sondern den Menschen mit all seinen Widersprüchen, Irrungen, Veränderungen“.

Da kommen sie dem Fritz J. Raddatz von der „Zeit“ gerade recht, der mal angefangen hat als „Tucholsky-Papst“, bis ihm als Herausgeber der alten Rowohlt-Bände unsägliche Schlampereien nachgewiesen wurden.

(...) ... ist aber immer noch sehr dagegen, daß der alten zehnbändigen Edition, die durchaus ausreiche, eine erweiterte folgt. Die neue „könnte der Deckel zu Tucholskys Sarg sein.“

Das sehen die HerausgeberInnen schon anders. Hepp: „Im Grunde nimmt die Forschung den Mann immer noch nicht ernst.

Lutz Wetzel/scha